Ein Hund denkt nicht viel über die Zukunft nach. Ein Hund schätzt das Jetzt – nicht das »Warte«, »Noch fünf Minuten« und »Gleich geht es los«. Und was ist mit uns?

Time after time I think
„Oh Lord what’s the use?“ …

Ein Hund denkt nicht viel über die Zukunft nach. Ein Hund schätzt das Jetzt – nicht das »War­te«, »Noch fünf Minu­ten« und »Gleich geht es los«. Die Fra­ge, ob es spä­ter noch etwas zu essen geben, ob man hier oder dort spa­zie­ren gehen wird hat weit weni­ger Gewicht als die Fest­stel­lung, dass man doch jetzt Hun­ger, dass man doch jetzt schon lan­ge genug gewar­tet hat und Hals­band und Lei­ne längst griff­be­reit lie­gen. Dass sich jeder Hund sei­ner Ver­gan­gen­heit bewusst ist, mehr oder min­der, steht außer Fra­ge – denn ganz gleich, ob das Reh vom Vor­mit­tag oder der Schä­fer­hund, dem man als Wel­pe zu nahe gekom­men ist, wird vie­les erin­nert und mehr noch ver­in­ner­licht, wird man­ches ver­knüpft und oft­mals ängst­lich besetzt. Den Vor­satz, besag­tes Reh bei nächs­ter Gele­gen­heit zu stel­len, oder jed­we­dem Schä­fer­hund aus dem Wege zu gehen, wird es den­noch nicht geben: Es ist die blei­ben­de Stadt, nicht die zukünf­ti­ge, in der unse­re Hun­de leben.

Sooner or later in life, the things
you love you lose …

Am Sil­ves­ter­abend über­le­gen wir viel­leicht, was blei­ben, was anders wer­den wird im neu­en Jahr. Wir den­ken nach über Dienst­plä­ne, über Geld, über Rei­sen, und neh­men uns mal wie­der vor mit dem Rau­chen auf­zu­hö­ren. Wir sagen viel­leicht, dass uns das Ver­gan­ge­ne nichts geschenkt hat und das Neue gegen­wär­tig nur bes­ser wer­den kann. Wir pla­nen und sichern um glück­lich zu wer­den – allein glück­lich zu sein fällt schwer, denn wir kom­men nie an. Wir sehen was wir erreicht, aber auch was wir ver­lo­ren, was das Letz­te zer­bro­chen, was nicht geklebt wer­den kann. Wir sind als Men­schen unter­wegs, und dass nichts bleibt, das spü­ren wir – wir sind fremd in uns selbst und nur Gäs­te auf Zeit. Uns quält der Schä­fer­hund in jeder Minu­te und gedank­lich haben wir alle Rehe schon drei­mal erlegt. Und wäh­rend wir den Hund mit einem »Gleich« noch ver­trös­ten, wird uns bewusst, dass auch die­ser nicht bleibt.

You’ve got the love I need
to see me through …

Jah­res­wen­de. Was wen­det sich? Ist es nur das Kalen­der­blatt, oder wird wirk­lich ein­mal alles anders, wird alles schön und gut und das, was ver­lo­ren geglaubt, wie­der­ge­fun­den? Was wünscht man denen, die einen beglei­tet haben, denen man im Lau­fe des Jah­res begeg­net ist? Ein­mal so wie ein Hund das Jetzt zu genie­ßen, nichts in Fra­ge zu stel­len, nicht der Ver­nunft zu unter­lie­gen – aber gelingt das uns Kopf­men­schen? Wären das gute Wün­sche für das kom­men­de Neue? Sich wie ein Hund ein­zu­las­sen, auf was immer da kommt? Lasst alle Rehe, alle Schä­fer­hun­de schla­fen – was Freu­de, was Lie­be, was Zuver­sicht schenkt, das ist längst da.

© Johannes Willwacher