25|12|2013 – Am Weihnachtsmorgen 

I will live in the past, the present,
and the future. The spi­rits of all three
shall stri­ve within me.
– Charles Dickens, A Christ­mas Carol

Drei Geis­ter sind es, die mich in die­ser Nacht heim­ge­sucht haben. Um es genau zu neh­men, nicht nur in die­ser Nacht, denn wer Hun­de hat, wird oft genug aus dem Schlaf hoch­schre­cken, weil sich ein unru­hi­ger Geist durch die Laken wühlt – aber weil der Ver­gleich es so will, und es eben um die Nacht vor dem ers­ten Weih­nachts­tag geht, belas­se ich es dabei.

Es ist gera­de ein Uhr durch, als mich der ers­te Geist mit einem lang­ge­zo­ge­nen Seuf­zen weckt, das bei­na­he mensch­li­che Züge trägt, und kaum miß­ver­stan­den wer­den kann. Ich zie­he eine Hand unter der Bett­de­cke her­vor, stre­cke sie im Dun­keln nach der unge­nau­en Kon­tur des Geis­tes aus und füh­le Fell, das flüch­tig mei­ne Fin­ger streift – der Kopf des Geis­tes ruht auf mei­ner Brust, ein Vor­der­lauf ist ange­win­kelt und der Bauch, dem also auch das Seuf­zen gilt, streckt sich mir auf­for­dernd ent­ge­gen. Mit geschlos­se­nen Augen las­se ich die von der Decke befrei­te Hand zwei oder drei Mal über den mir dar­ge­bo­te­nen Bauch strei­chen, murm­le »Heia, Heia«, und döse schließ­lich wie­der ein.

Eine Stun­de spä­ter schleicht sich der zwei­te Geist zag­haft in mein Bewusst­sein, das eine Wei­le braucht, um zu bemer­ken, dass die Wel­len, die im Traum gegen mei­ne Ohren bran­den, bloß Ein­bil­dung sind, und viel eher von der Zun­ge eben jenes Geis­tes her­rüh­ren, der es sich auf mei­nem Kopf­kis­sen gemüt­lich gemacht hat. Ich dre­he den Kopf leicht und blinz­le ins Halb­dun­kel hin­ein, erah­ne Lef­zen, die sich kräu­seln und mich durch eine Rei­he von spit­zen, wei­ßen Zäh­nen einen Blick auf das feuch­te Organ erha­schen las­sen, das mich auf­ge­weckt hat. »Heia«, zische ich ihm ent­ge­gen, rol­le mich auf die ande­re Sei­te und ver­su­che, wäh­rend ich mir bei­de Hand­flä­chen auf die Ohr­mu­scheln pres­se, wie­der einzuschlafen.

Der drit­te Geist schließ­lich folgt gleich auf den zwei­ten, und ist, obwohl er sich im Schat­ten der Hun­de­box ver­birgt und schwer­lich mit der glei­chen phy­si­schen Gewalt in Erschei­nung tre­ten kann, wie sei­ne bei­den Vor­gän­ger, der Unheim­lichs­te von allen – denn er heult. Er heult so, wie es nur Geis­ter kön­nen. Oder eben Rüden, denen der Duft einer läu­fi­gen Hün­din in der Nase sitzt. Ich selbst sit­ze gleich dar­auf senk­recht im Bett, über­le­ge noch kurz, wel­chen der Hun­de ich wohin sor­tie­re, tas­te dann im Dun­keln nach dem frag­li­chen Zwei­ten, und gemein­sam stol­pern wir die Trep­pen hin­un­ter, um die Nacht auf dem Sofa fortzusetzen.

God bless us, every one!

Als die Geis­ter Scr­oo­ge ver­las­sen und er am Weih­nachts­mor­gen erwacht, ist er geläu­tert und beschließt, fort­an ein bes­se­rer Mensch zu sein. Mir hin­ge­gen tut bloß der Rücken weh. Und doch neh­me ich den Gedan­ken dar­an mit, wäh­rend ich mich an den Schreib­tisch set­ze, und das ers­te Wort, das ich schrei­be, ist also »Läu­te­rung«. Was bedeu­tet das, fra­ge ich mich – und ver­su­che das sper­ri­ge Wort durch ein ande­res zu erset­zen, eines, das bild­haf­ter ist, und mit dem ich bes­ser arbei­ten kann. Nach eini­gem Nach­den­ken schrei­be ich »Ver­wand­lung« dahin­ter und las­se bei­des ein wenig auf mich wir­ken. Fra­ge mich: Braucht es sol­che Geis­ter, um Schwä­chen in Stär­ken zu ver­wan­deln? Um sich die Kon­se­quen­zen der eige­nen Hand­lun­gen bewusst zu machen, und umzu­keh­ren? Ja, denn manch­mal scheint man sich, mit allem, was man ist, zu sehr selbst im Weg zu ste­hen, um noch an ein Umkeh­ren zu den­ken und um »Ver­ge­bung« zu bit­ten – und die­ses drit­te Wort krei­se ich schließ­lich in Gedan­ken ein.

Charles Dickens lässt sei­ne Weih­nachts­ge­schich­te mit einem kind­li­chen »God bless us, every one!« enden. Unse­re Hun­de wür­den das viel­leicht eben­falls tun – sie sind schließ­lich die sozia­le­ren Lebe­we­sen und brau­chen kei­nen mora­li­schen Kom­pass oder kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv, um zu wis­sen, was zu tun ist. Tun wir es ihnen gleich?

Von uns ein fro­hes Weih­nachts­fest an alle, die es brauchen.

© Johannes Willwacher