26|12|2016 – Ida's 6. Geburtstag
26|12|2016 – Ida’s 6. Geburtstag

Geburtstage sollten eigentlich ein Grund zur Freude sein. Auf die meisten mag das zutreffen, auf Idas 6. Geburtstag, den wir heute feiern, aber leider nicht.

Ich seh uns bei­de, du bist längst zu schwer
für mei­ne Arme, aber ich geb dich nicht her.
Ich weiß, dei­ne Mons­ter sind genau wie meine
und mit denen bleibt man bes­ser nicht alleine.
Ich weiß, ich weiß, ich weiß und fra­ge nicht.
Halt dich bei mir fest, steig auf, ich tra­ge dich.

Ich wer­de rie­sen­groß für dich
– ein Ele­fant für dich, ich trag dich
mei­len­wei­ter übers Land.
Und ich trag dich so weit wie ich kann.
Ich trag dich so weit wie ich kann.
Und am Ende des Wegs, wenn ich muss
trag ich dich über den Fluss.
– »Ele­fant für dich«, Wir sind Hel­den (2005)

Lie­be Ida,

wir wis­sen nicht, ob Dein sechs­ter Geburts­tag viel­leicht der letz­te ist, den wir mit Dir fei­ern dür­fen. Wir wis­sen, dass die Pro­gno­sen schlecht sind, dass es zwar weni­gen gelingt, die Krank­heit zu über­win­den, wie­der gesund zu wer­den, den meis­ten aber bloß noch Mona­te bleiben.

Das aus­zu­spre­chen fällt nicht leicht – die­ses Wis­sen aber nur mit mir allei­ne her­um­zu­tra­gen, ande­re zu schüt­zen, nicht zu sehr zu beun­ru­hi­gen, fällt zuneh­mend schwe­rer. Es ist wie der Ele­fant im Raum, von dem zwar jeder weiß, dass er da ist, den aber jeder zu igno­rie­ren ver­sucht. Ich kann das nicht mehr.

»Die Biop­sie hat – wie zu erwar­ten war, muss ich lei­der sagen – gezeigt, dass bereits Tumor­zel­len in den Lymph­kno­ten ein­ge­wan­dert sind«, klärt mich Dr. Kess­ler eine Woche nach der Ope­ra­ti­on tele­fo­nisch auf. Es ist bereits spät, lan­ge nach Fei­er­abend. »Zur wei­te­ren Behand­lung erge­ben sich ver­schie­de­ne Optio­nen«, fährt er fort, »da es sich im Fall ihrer Hün­din um einen Rezi­div han­delt und der Tumor bereits lokal metasta­siert hat, reicht die eng­ma­schi­ge Kon­trol­le, die zur Nach­sor­ge des Pri­mär­tu­mors statt­ge­fun­den hat, allein nicht mehr aus«. Ich ahne, was folgt. »Da sich gezeigt hat, dass Schild­drü­sen­kar­zi­no­me sehr gut auf Bestrah­lung reagie­ren, möch­te ich eine Radio­the­ra­pie emp­feh­len, um das umlie­gen­de Gewe­be nach­zu­be­strah­len, und wür­de unter Umstän­den auch eine ergän­zen­de medi­ka­men­tö­se Behand­lung in Erwä­gung zie­hen«. Medi­ka­men­tös meint Che­mo­the­ra­pie, den­ke ich, und bei­ße mir auf die Lip­pe, um nicht laut »Schei­ße« zu sagen.

Ähn­lich geht es offen­kun­dig auch Dirk, als wir, wie­der eine Woche spä­ter, ein Bera­tungs­ge­spräch mit der Radio­lo­gin der Kli­nik in Anspruch neh­men, und die Sum­me genannt wird, die für die vier Frak­tio­nen des pal­lia­ti­ven Pro­to­kolls, das uns ange­ra­ten wird, anfällt. Auch sie spricht wie­der von loka­ler Kon­trol­le und der Mög­lich­keit von Fern­me­ta­sta­sen, auch sie kommt schluss­end­lich auf die Not­wen­dig­keit einer Che­mo­the­ra­pie zu spre­chen – ich aber len­ke ein und win­ke ab: wir haben längst entschieden.

26|12|2016 – Ida's 6. Geburtstag
26|12|2016 – Ida’s 6. Geburtstag

Nach einer The­ra­pie mit 48 Gy in 4-Gy-Frak­tio­nen (Mon­tag-Mitt­woch-Frei­tag-Sche­ma) war nach einem Jahr bei 80 Pro­zent und nach drei Jah­ren bei 72 Pro­zent von 25 bestrahl­ten Hun­den kein wei­te­res Tumor­wachs­tum fest­zu­stel­len. Das Risi­ko einer Metasta­sie­rung war bei beid­sei­ti­gen Schild­drü­sen­kar­zi­no­men 16 Mal höher als bei ein­sei­ti­gen. In einer wei­te­ren Stu­die mit acht Pati­en­ten mit inope­ra­blen Kar­zi­no­men (46,8–48 Gy) kam es bei allen Tie­ren zur Kom­plettre­mis­si­on; vier Hun­de ent­wi­ckel­ten Meta­sta­sen. Die media­ne Über­le­bens­zeit lag bei 24,5 Mona­ten (12–36 Mona­te). In bei­den Berich­ten war die Regres­si­on der Tumo­ren nach der Bestrah­lung sehr lang­sam und dau­er­te 8–22 Monate. 

Mar­tin Kess­ler (Ed.) in: Klein­tieron­ko­lo­gie: Diagnose 
und The­ra­pie von Tumor­er­kran­kun­gen bei Hund und Katze, 
Georg Thie­me Ver­lag, 2012

Schon zum Zeit­punkt der Erst­dia­gno­se hat­te ich mich mit den ver­schie­de­nen, auf Ver­lauf und Sta­di­um der Krank­heit abge­stimm­ten Behand­lungs­mög­lich­kei­ten aus­ein­an­der­ge­setzt, Stu­di­en­ergeb­nis­se ver­gli­chen und mich in die Fach­li­te­ra­tur ein­ge­le­sen – zum einen wohl, um den behan­deln­den Ärz­ten auf Augen­hö­he begeg­nen und the­ra­peu­ti­sche Ent­schei­dun­gen bes­ser nach­voll­zie­hen zu kön­nen, zum ande­ren aber zwei­fels­oh­ne auch, um der Krank­heit gedank­lich immer einen Schritt vor­aus zu sein. Da ein Schild­drü­sen­kar­zi­nom einen in der Regel sehr aggres­si­ven Tumor dar­stellt, der stark inva­siv wächst und sowohl lym­pho­gen als auch häma­to­gen metasta­siert, ist oft­mals eine sys­te­mi­sche The­ra­pie ange­zeigt, die neben der Tumor­chir­ur­gie auch Bestrah­lun­gen (zur loka­len Kon­trol­le) und Che­mo­the­ra­pie (zur Kon­trol­le von Fern­me­ta­sta­sen) nutzt. Ganz gleich, wie auf­ge­schlos­sen man den Mög­lich­kei­ten der Vete­ri­när­me­di­zin gegen­über­steht, wird jeder Hun­de­be­sit­zer erst ein­mal ähn­lich reagie­ren: über­for­dert. Wel­che Pro­gno­se recht­fer­tigt wel­che Kos­ten, wel­che Behand­lung? Was kann, was will ich mei­nem Tier zumuten?

Wenn ich mir unser Rudel betrach­te, dann kom­men jedem der drei Hun­de bestimm­te Funk­tio­nen und Auf­ga­ben zu, die sie mit mal mehr, mal weni­ger Hin­ga­be erfül­len. Wäh­rend Nell das Rudel führt und Zion als Fuß­po­li­zist der bei­den Hün­din­nen fun­giert, der bei dro­hen­der Gefahr vor­an­ge­schickt wird und dafür – wenn­gleich oft­mals schuld­los – die Schel­te kas­siert, kom­men Ida die sozia­len Auf­ga­ben zu: sie ver­mit­telt, schlich­tet und ach­tet dar­auf, dass das Rudel als Ein­heit funk­tio­niert. Und nicht bloß das vier­bei­ni­ge. Wenn ich abends noch län­ger in der Küche sit­ze, sich alle ande­ren aber längst auf dem Sofa ein­ge­fun­den haben, ist sie es, die zwi­schen dem einen und dem ande­ren Raum hin und her eilt, erst dann zufrie­den ist, wenn ich das Note­book zuklap­pe und mir mei­nen Platz zwi­schen den ande­ren suche. Könn­te sie spre­chen, sage ich ger­ne, dann wäre ihr Man­tra viel­leicht am ehes­ten so etwas wie: »Das Rudel muss zusam­men­blei­ben«. Das mag ange­sichts ihrer Erkran­kung belang­los schei­nen – für die Ent­schei­dung, die wir zu tref­fen hat­ten, hat­te es aber durch­aus eine Bedeutung.

26|12|2016 – Ida's 6. Geburtstag
26|12|2016 – Ida’s 6. Geburtstag

Der Tier­be­sit­zer soll­te ein Merk­blatt erhal­ten, dass bei der Appli­ka­ti­on von Tablet­ten unbe­dingt Hand­schu­he zu tra­gen sind; Spei­chel, Kot und Urin des Pati­en­ten kon­ta­mi­niert sind und – wenn erfor­der­lich – ihre Besei­ti­gung nur mit Hand­schu­hen erfol­gen darf […]; Tie­re nicht dort aus­ge­führt wer­den dür­fen, wo Kin­der spie­len; wäh­rend und einen Monat nach der Che­mo­the­ra­pie ein Bele­cken durch das Tier ver­mie­den wer­den soll.

Ernst-Gün­ther Grün­baum (Ed.), »Anlei­tung zur
Hand­ha­bung von Che­mo­the­ra­peu­ti­ka« in: Kli­nik der
Hun­de­krank­hei­ten, Georg Thie­me Ver­lag, 2007

In einem Hand­lungs­leit­fa­den, den die Kli­nik an die behan­deln­den Ärz­te her­aus­gibt, und der mir bei mei­nen Recher­chen zufäl­lig in die Hän­de gefal­len ist, heißt es, dass ein Groß­teil der Pati­en­ten­be­sit­zer einer Che­mo­the­ra­pie ableh­nend gegen­über­steht. Als Grund wird vor allen Din­gen das Bild ange­führt, das die Pati­en­ten­be­sit­zer von der Behand­lung haben und das sich in wei­ten Tei­len aus eige­nen Erfah­run­gen oder Ver­glei­chen mit der Human­me­di­zin speist. Es stimmt, dass eine Che­mo­the­ra­pie beim Hund mit weit weni­ger Neben­wir­kun­gen aus­kommt, als eine ver­gleich­ba­re Behand­lung beim Men­schen, und dass wäh­rend des 12- bis 15-wöchi­gen, ers­ten Pro­to­kolls nur bei weni­gen Tie­ren eine Min­de­rung der Lebens­qua­li­tät ein­tritt. Das dem so ist, lässt sich jedoch leicht begrün­den: die The­ra­pie beim Hund fällt weit weni­ger aggres­siv aus, ist damit aber auch längst nicht so effek­tiv – in der Regel lässt sich bloß eine kurz­zei­ti­ge Remis­si­on errei­chen. Und ganz gleich, ob es nun die ver­gleichs­wei­se hohen Kos­ten sind, die man in Bezie­hung zu ihrem Nut­zen stellt, oder die Kon­se­quen­zen, die sich aus der Behand­lung für das Zusam­men­le­ben mit dem Tier erge­ben – die ange­streb­te Auf­recht­erhal­tung der Lebens­qua­li­tät gin­ge in unse­rem Fall mit einer dra­ma­ti­schen Ein­schrän­kung der­sel­ben ein­her, da Ida für den Zeit­raum der zyto­sta­ti­schen Behand­lung per­ma­nent von den bei­den ande­ren Hun­den getrennt wer­den müss­te und, im Hin­blick auf die Funk­ti­on, über die sie sich selbst defi­niert, tat­säch­lich lei­den wür­de. Man­cher mag, nein, man­cher wird das anders beur­tei­len – ich sehe mei­ne Ver­ant­wor­tung aber maß­geb­lich dar­in, ihre Lebens­qua­li­tät auf­recht­zu­er­hal­ten und nicht dar­in, jedes the­ra­peu­ti­sche Mit­tel aus­zu­schöp­fen. Selbst wenn das bedeu­tet, sie frü­her gehen las­sen zu müssen.

Man weiß, dass die­ser Tag kom­men wird, wenn man einem Hund ein Zuhau­se gibt. Man hofft, dass die Zeit lang und der Tag noch fern ist. Man hofft, aber nicht jede Hoff­nung wird erfüllt. Ver­ant­wor­tung bedeu­tet nicht, den Ele­fan­ten zu igno­rie­ren – sie bedeu­tet, sich dem Unaus­weich­li­chen zu stel­len, selbst zu die­sem Ele­fan­ten zu wer­den. Und den, den man liebt zu tra­gen, bis zum Schluss.

Dein sechs­ter Geburts­tag, lie­be Ida. Wir haben dich sehr lieb.

© Johannes Willwacher