Nell ist nicht mehr da. Sie war mehr als ein Hund – sie war Familie, Gefährtin, Freundin. Sie war der Grund, warum es all das hier gibt. Dies ist ihr Abschied.
On My Own Nell Now or never
4.6.2009 – 18.5.2025
Ich bin alt. Und ich weiß, dass es Zeit wird. Mein Körper sagt das. Er will nicht mehr. Jedem Muskel scheint mit einem mal die Kraft zu fehlen, und auch, wenn die alten Knochen sich noch trotzig dagegen zu stemmen versuchen, gelingt ihnen das nur für ein paar Schritte. Ich stehe auf und falle hin. Es wird Zeit. Ich weiß das. Nur meine Menschen wissen das noch nicht.
Vielleicht ahnen sie etwas. Weil ich das Futter verweigere. Weil ich nichts trinken will. Weil ich nur noch da liege, ruhig und mit geschlossenen Augen, und abwarte, was als nächstes geschieht. Irgendetwas wird geschehen, da bin ich mir sicher. Die Zeit läuft weiter. Aber ohne mich.
Denn was meine Menschen nicht ahnen, ist, dass ich längst meinen Platz gefunden habe. Außerhalb der Zeit, in Geschichten und Erinnerungen, die niemals alt werden. In denen ich als junger Hund einem Reh hinterhersetze. In denen ich am Weiher im Stadtwald ein Loch grabe, in dem ich selbst ganz verschwinden kann. In denen ich über Wiesen laufe – alleine, mit anderen Hunden, mit meinen Welpen –, durch Wälder, Städte, Ausstellungshallen. Weit, bis ans Meer.
Sie sprechen leise miteinander. Glauben, ich merke es nicht. Aber ich merke alles. Die Unruhe in ihren Bewegungen, das zögerliche Lachen, das wie eine schlechte Tarnung klingt. Sie räumen leere Näpfe weg, setzen sich auf den Boden neben mich, manchmal einfach so, und erzählen von früher. Geschichten, in denen ich vorkomme. Sie nennen meinen Namen ein bisschen zu oft, so als könnten sie mich damit wieder ins Leben rufen.
Ich höre zu, solange ich kann. Aber das Drängen, noch ein wenig zu bleiben, wird schwächer. Die Welt riecht anders. Blasser. Ich bin nicht mehr traurig darüber. Ich spüre weder Angst noch Schmerz.
Ich erinnere mich an den Wind im Fell, an Wasser um meine Pfoten, an Menschen, an ihre Gesichter. An Hände, die freundlich sind. An Stimmen, die mich rufen. Alles, was ich bin, ist in diesen Erinnerungen aufgehoben, und es fühlt sich an, als könnte ich jeden Moment aufstehen, laufen, springen, noch einmal jung sein.
Vielleicht tue ich das schon, irgendwo – außerhalb der Zeit.
Es ist halb vier, als sich Nell ein letztes Mal aufbäumt. Sie krampft einmal, zweimal, während ich ihren Vorderlauf in meinen Händen halte. Ihre Kiefer malmen, dann fällt ihr Kopf zurück und ihr Atem versiegt. Für einen Moment weigert sich etwas in mir zu begreifen, dass sie gegangen ist. Dass sie alleine entscheiden hat. Und schnell.
»Gestern war noch alles gut«, denke ich – und weine, obwohl ich nicht traurig bin. Obwohl ich in diesem Moment nur Dankbarkeit spüre. Dafür, dass ich sie halten durfte. Fast sechzehn Jahre lang. Und bis zuletzt.
Dann lasse ich ihre Pfote los.
© Johannes Willwacher