Charakter und Wesensmerkmale
Angstbeißer, Bällchenjunkie, Radfahrerschreck – oft genug liest man, der Border Collie sei ein Problemhund. Aber warum ist das so und warum neigt augenscheinlich gerade diese Hunderasse so häufig zu Verhaltensstörungen? Ein Versuch, die charakterlichen Besonderheiten der Rasse zu verstehen.
Ein Border Collie ist nicht bloß ein Hund – ein Border Collie ist eine Herausforderung. Vielleicht ist es genau diese – zugegeben, bewusst provokant formulierte – Aussage, die einer Beschreibung der Wesensmerkmale der Rasse am nächsten kommt, denn sie impliziert, dass den rassebedingten Besonderheiten nicht jeder gewachsen ist. Das diese Herausforderung zum Problem wird, müssen leider viele Hundebesitzer bemerken, die sich die Anforderungen der Rasse vor dem Kauf nicht ausreichend bewusst gemacht haben: die charakterlichen Eigenschaften, für die der Border Collie gerne gepriesen wird (beispielsweise seine Menschenfreundlichkeit, seine Sensibilität und Anhänglichkeit sowie seine Gelehrigkeit und sein enormer Arbeitswille), entwickeln bei unzureichender Beschäftigung oder inkonsequenter Erziehung nicht selten belastende Schattenseiten. Ein Border Collie ist fraglos ein toller Hund – aber eben nicht für jeden und nur, wenn er und seine Wesensmerkmale verstanden werden und man diese nicht aus dem Gleichgewicht geraten lässt.
Natürliche Verhaltensweisen
Um den Border Collie zu verstehen ist es unabdingbar, sich seinen Ursprung genauer zu betrachten und nachzuvollziehen, wie fest gewisse – für den Hundehalter oft unerwünschte und in unverständigen Händen schwer zu händelnde – Wesensmerkmale im genetischen Programm der Rasse verankert sind: die Selektion auf Arbeitsleistung, die den Border Collie zu einem hervorragenden Arbeitshund macht, bedingt viele seiner wesentlichen Charaktereigenschaften. Haben sie schon einmal einen arbeitenden Border Collie beobachtet? Nein? Dann sollten sie genau das einmal tun.
Es ist nicht nur der athletische Körperbau, der plötzlich viel mehr Sinn macht, wenn man einem Border Collie beim Treiben einer Schafherde zusieht – auch die Wendigkeit und Ausdauer, mit der er die Herde umkreist, die Schnelligkeit, mit der er auf Bewegungen einzelner Tiere reagiert, das Fixieren, mit dem er die Herde mühelos kontrolliert, oder die Fähigkeit, auch über weite Distanzen selbstständig zu arbeiten, erscheinen in einem anderen Licht. Fast alle vorgenannten, für einen Border Collie folglich völlig natürlichen Verhaltensweisen, können zu Problemen führen, wenn die Veranlagung des Hundes missverstanden und seitens des Halters zu wenig Kontrolle ausgeübt wird. Trauen sie sich das zu?
Um den Hütetrieb des Border Collie angemessen zu verstehen, muss das generelle Jagd- und Beuteverhalten des Hundes betrachtet werden, denn im Gegensatz zu beinahe allen anderen Hütehundrassen wurde die besondere Veranlagung des Border Collie nicht aus dem Spieltrieb herausgezüchtet, sondern entspricht weitestgehend dem ursprünglichen, wölfischen Jagdverhalten. Wie der Wolf, kreist auch der Border Collie im großen Bogen um seine Beute, bevor er sich mit abgesenktem Körper, konzentriert eingezogener Rute und starrem Blick langsam vorwärts bewegt. Die Endhandlung des Beutefangverhaltens, das Reißen der Beute, wurde beim Border Collie durch gezielte Selektion eliminiert. Das bedeutet aber nicht, dass diese Hunde von ihren Zähnen mitunter nicht doch Gebrauch machen würden – beispielsweise, um die Fluchtbewegung eines Schafes zu stoppen oder um sich Autorität zu verschaffen. Vom Schäfer erwünscht, beginnen mit dem Trieb, einem ausbrechenden Tier nachzujagen, für viele Hundehalter die Probleme.
Hütehunde jagen nicht?
Radfahrer, Jogger, Autos, spielende Kinder – gerade die schnellen Bewegungsreize sind es, auf die ein Border Collie besonders stark reagiert. Dass es nicht nur unerfreulich und teuer werden kann, wenn dieses Verhalten nicht unterbunden wird, bedarf wohl keiner Erklärung: ein Hund, der unkontrolliert alles jagt, was sich bewegt, stellt ein Risiko für sich und seine Umgebung dar. Wichtig ist zu wissen, dass es sich beim Jagen – bedingt durch die Ausschüttung von Endorphinen – um ein in hohem Maße selbstbelohnendes Verhalten handelt, und dass sich Verhaltensmuster, die einmal zum Kick geführt haben, besonders schnell einprägen und verselbständigen. Was unternimmt man also dagegen? Das Stichwort heißt, wie bei fast allen die Rasse betreffenden Problemen: Kontrolle.
Border Collie – Familienhund?
Kontrolle meint, im wörtlichsten Sinne, eine konsequente Erziehung: ein Border Collie duldet keine Nachlässigkeit. Auf Fehlverhalten muss deshalb umgehend reagiert, das Fehlverhalten sinnvoll umgelenkt werden. Kontrolle bedeutet also darüber hinaus, dem Hund eine angemessene Beschäftigung zu bieten – kaum ein Border Collie ist damit zufrieden, nur Familienhund zu sein, und fast immer macht sich der Frust, den eine Unterforderung für die Rasse darstellt, irgendwann deutlich bemerkbar. Aggressivität und Zerstörungswut bis hin zu autoaggressiven Stereotypien: die Auffälligkeiten, die ein unterforderter Border Collie zeigt, sind vielgestaltig.
Man sollte nun allerdings nicht denken, dass diese Rasse dauerhaft beschäftigt werden muss – gerade für einen jungen Border Collie ist es wesentlich, Ruhezeiten zu lernen und einzuhalten. Die beinahe unermüdliche Arbeitsbereitschaft dieser Rasse – ätiologisch eine Notwendigkeit, um Vieh auch über weite Strecken treiben zu können –, verleitet manchen aber viel eher dazu, den Hund zu überlasten. Eine Überlastung ist, genauso wie eine Unterforderung, fatal: je mehr man dem Hund bietet, desto mehr fordert er. Anteil daran hat vielleicht auch das gängige Klischee, dass man einen Border Collie gar nicht genug auslasten kann, und demzufolge gerne bereits im Welpenalter damit begonnen wird, Stundenpläne für jeden Tag der Woche zu erstellen, den Hund durch exzessives Ballspielen zum Junkie zu erziehen und das Stresslevel beständig zu erhöhen.
Es muss also gar nicht das Überangebot an Aktivität sein – womöglich genügt sogar eine Disziplin, die den Hund, von der täglichen Bewegung einmal abgesehen, geistig fordert. Wenngleich die Hütearbeit durch keine andere Beschäftigung zu ersetzen ist, finden sich im Hundesport doch genügend Angebote, um den Hund anspruchsvoll zu trainieren.
Konsequenz und Nachgiebigkeit
Das Training eines Border Collie verlangt viel Fingerspitzengefühl. Während sich der eine Hund mühelos unterordnet, hat man es beim nächsten mit einem willensstärkeren Charakter zu tun, der nicht nur den Hundeführer in Frage stellt, sondern diesem auch regelmäßig die Stirn bietet. Diese Dominanz mag in der Auseinandersetzung mit einem einzuholenden Schaf von Vorteil sein, für den Hundeführer bedeutet sie aber einen weit höheren Trainingsaufwand. Wichtig ist, dass hier nur so viel Druck ausgeübt wird, wie unbedingt nötig – auf körperliche und verbale Übergriffe sollte unbedingt verzichtet werden, will man bei dieser hochsensiblen Rasse keinen Vertrauensverlust riskieren. Dieser Spagat zwischen Strenge und Verspieltheit, zwischen Konsequenz und sanfter Nachgiebigkeit kann herausfordernd sein – aber auch auf die Gefahr hin, dass ich mich abschließend wiederhole: ein Border Collie ist nicht bloß ein Hund – ein Border Collie ist eine Herausforderung.