Wie riechen verloren geglaubte Erinnerungen? Ein Märchen von Hunden, die gar keine Hunde sind – unserem F-Wurf zu seinem sechsten Geburtstag.

Die Frau mit dem roten Schal bückt sich nach einer Packung Nudeln, als sie es spürt. Ein Blick zur Sei­te. Ein Rucken in der Brust, wie ein uner­war­te­ter Wind­stoß. Ein Gefühl, das nicht sofort greif­bar ist – nicht Angst, nicht Freu­de, son­dern etwas Drit­tes, Unbe­stimm­tes. Die ande­re Frau – dunk­le Locken, eine grü­ne Wachs­ja­cke – hält inne. Ein Moment der Span­nung, wie ein kaum merk­li­ches Erstar­ren. Dann ein Zögern, ein inne­res Abwä­gen, bevor sie den Schie­be­griff des Ein­kaufs­wa­gens mit bei­den Hän­den umfasst und näher kommt.

Geruch. Nicht wahr­nehm­bar für das bewuss­te Den­ken, aber doch da. Etwas Altes, das sich regt, das einen Spalt in der Erin­ne­rung öff­net. Eine Emp­fin­dung, nicht viel mehr. So, als wür­de man eine Tür öff­nen und für einen Sekun­den­bruch­teil den Duft einer Kind­heits­som­mer­wie­se erha­schen. Ein Hauch von feuch­ter Erde nach dem Regen, von frisch gewa­sche­ner Wäsche, die in der Son­ne trock­net. Etwas, das nach Zuhau­se riecht, ohne dass sie genau sagen könn­te, was das bedeutet.

Die Frau mit den Locken legt den Kopf schräg und kneift die Augen zusam­men, ein Reflex. Unbe­wusst. Wie ein Tier, das etwas prüft. Die mit dem roten Schal blin­zelt und tritt einen Schritt zurück, als müs­se sie den Blick aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve ein­fan­gen. Zwei Bewe­gun­gen, Spie­gel­bil­der, Syn­chro­ni­zi­tät aus einem unbe­kann­ten Grund. Einen Herz­schlag lang fühlt es sich an, als wären sie Kin­der, die sich in einem Spie­gel betrach­ten. In einem die­ser alten, fast blin­den Spie­gel, die das Bild mit einem leich­ten Zit­tern zurückgeben.

»Wir ken­nen uns«, sagt die eine lei­se. Nicht fra­gend, nicht sicher, aber auch nicht unge­wiss. Die ande­re schnaubt lei­se, ein Luft­hauch, als wäre sie über­rascht, über­führt, als hät­te sie ver­ges­sen, dass so etwas mög­lich ist. Sie mus­tert die Hän­de der Frau, ihre Hal­tung, die Art, wie sie ihr Gewicht von einem Bein auf das ande­re ver­la­gert. Irgend­et­was in ihr schreit nach Distanz, nach Ver­nunft. Und doch – ihre eige­ne Hand zuckt leicht, als woll­te sie einen Fin­ger heben, eine Bewe­gung nach­ah­men, die sie selbst nicht ganz ver­steht. »Viel­leicht«, sagt sie. »Viel­leicht haben wir uns schon ein­mal getroffen.«

Das Knis­tern in der Luft, unent­schie­den zwi­schen Annä­he­rung und Rück­zug. Eine uralte Ver­traut­heit, die sich mit Miss­trau­en mischt. Die Erin­ne­rung an Stim­men in der Dun­kel­heit, an Kin­der­la­chen, an eine Umar­mung, die viel­leicht geträumt war. Ein vages Gefühl von Kind­heits­nach­mit­ta­gen, von geteil­ten Räu­men, viel­leicht sogar geteil­ten Geheim­nis­sen – oder ist das nur Ein­bil­dung? Sie ste­hen sich gegen­über, das Regal mit den Nudeln zwi­schen ihnen. Die eine greift eine Packung, die ande­re eine ande­re Sor­te. Ihre Fin­ger bewe­gen sich ähn­lich. Ein Moment des Par­al­le­len, der fast beängs­ti­gend ist.

Dann ein schma­ler, vor­sich­ti­ger Blick. »Ent­schud­li­gen Sie, dass ich so direkt fra­ge«, mur­melt die mit dem roten Schal. »Ihr Geruch kommt mir so bekannt vor.« Ein Satz, der in einem ande­ren Kon­text wohl befremd­lich wäre, aber hier – hier abso­lut rich­tig scheint. Die ande­re atmet aus, ihr Magen zieht sich kurz zusam­men, das Echo eines Gefühls, das sie nicht benen­nen kann. Ein Zie­hen in der Brust, ein fast trot­zi­ges Fest­hal­ten an ihrer eige­nen Welt, die sie nicht auf­bre­chen will. Denn was, wenn sie sich irren? Was, wenn sie recht haben?

Geschwis­ter. Getrennt, zu früh viel­leicht, oder zu spät. Zu lan­ge her, zu kurz gewe­sen. Eine Ver­wandt­schaft, die viel­leicht nichts bedeu­tet oder alles. Eine, die nach­klingt in der Art, wie sie ste­hen, wie sie ein­an­der mus­tern, wie sich ihre Schul­tern heben und sen­ken, als wür­den sie den Atem des ande­ren mit­neh­men. Eine Erin­ne­rung, die viel­leicht gar kei­ne ist, son­dern nur ein Nachhall.

Dann: ein win­zi­ges Zucken in den Mund­win­keln. Ein Hauch von Erken­nen. Kein über­schwäng­li­ches Wie­der­se­hen, kei­ne plötz­li­chen Umar­mun­gen. Nur eine Stil­le, die sich teilt. Eine win­zi­ge, uner­war­te­te Wär­me. Und doch – etwas beginnt, sich zu for­men. Ein Fun­ke von Mög­lich­keit, ein unaus­ge­spro­che­ner Satz, der in der Luft hängt. Ein Lächeln. Kaum da, und doch alles.

Die Frau mit dem roten Schal legt ihre Ein­käu­fe aufs Band. Der Scan­ner piept mono­ton, das hel­le Licht der Super­markt­kas­se wirft har­te Schat­ten auf die glän­zen­de Ober­flä­che des För­der­bands. Und plötz­lich steigt ein Gefühl in ihr auf – dif­fus, aber drän­gend. Ein Gefühl von Wär­me, von Kör­pern, die sich anein­an­der­schmie­gen. Eines, das sie nicht benen­nen kann, weil es älter ist als Wor­te. Eines, das ver­spricht, dass man nie ganz allein ist – bis der Tag kommt, an dem man getrennt wird. Ein Instinkt, eine Lücke. Eine Spur, die nie ganz verweht.

Sie schüt­telt sich fast unmerk­lich, als wol­le sie etwas abstrei­fen, das an ihr haf­tet. Dann zahlt sie und geht wei­ter. Auf dem Park­platz trägt ein schar­fer Wind­stoß den Geruch von Ben­zin und nas­sem Asphalt mit sich. Sie bleibt ste­hen. Schnup­pert unbe­wusst, so wie man es tut, wenn etwas fehlt.

Zuge­ge­ben: so ganz wahr­schein­lich ist es nicht, dass sich zwei Men­schen begeg­nen und fest­stel­len, dass sie Geschwis­ter sind. Womög­lich auch, weil Men­schen kei­ne all­zu guten Nasen besit­zen. Bei unse­ren Hun­den stel­len wir uns aber doch immer wie­der die Fra­ge, ob sie sich wie­der­erken­nen – auch nach Jah­ren noch. Wie viel ist nach sechs Jah­ren wohl noch von die­sem eigen­tüm­lich ver­trau­ten Geruch übrig? Lässt er ein Wie­der­erken­nen zu oder wird er – von der Zeit, von frem­den Ein­drü­cken und Gerü­chen – immer mehr ver­wa­schen und über­tüncht? Zum sechs­ten Geburts­tag des­halb nicht nur die aller­bes­ten Wün­sche an unse­ren F-Wurf – an Quinn, Fel­low, Finn, Mol­ly und Sis­si –, son­dern auch die Fra­ge: Was bleibt von der Welpenzeit?

© Johannes Willwacher