
Älterwerden – das heißt irgendwann auch: der eigenen Endlichkeit ins Gesicht zu schauen. Und sie verschmitzt weg zu lächeln. Unserem B-Wurf zum 12. Geburtstag.
Frei nach einem Comic
von Charlie Higson
Der Tod war sich ziemlich sicher, dass er an der richtigen Adresse war. Nun, so sicher, wie man sich eben sein konnte, wenn man eine Jahrtausende alte Existenzform war, die mangels eines funktionierenden Gehirns auf einen akribisch geführten Terminkalender angewiesen war. Immerhin war Ordnung wichtig. Man konnte ja nicht einfach Leute nach Lust und Laune holen – nun, technisch gesehen war das zwar nicht ausgeschlossen, aber dann gäbe es Beschwerden. Er stand also vor der Tür und überprüfte seine Liste. Mrs. Edna Bradshaw, 82 Jahre alt, keine Allergien. Ein leichter Hüftschaden und nicht mehr im Besitz ihrer natürlichen Zähne – welcher Mensch in diesem Alter war das schon –, aber im Besitz einer außergewöhnlichen Menge an Rabbatcoupons. Ein anständiger Fall, eigentlich. Routine.
Er hob die bleiche Hand, um anzuklopfen. Bevor er dazu kam, ging die Tür aber schon auf. »Ach, Dickie, mein Junge! So früh schon?«, sagte die alte Dame, die ihm gegenüber stand. »Ich hatte dich noch gar nicht erwartet! Komm doch rein, mein Junge, da draußen wirst du dir ja noch den Tod holen!« Der Tod überlegte kurz, das Missverständnis aufzuklären – er war sich ziemlich sicher, dass er kein Dickie war –, entschied sich aber schließlich achselzuckend dagegen. Dafür war auch später noch Zeit.
Er wurde in ein Wohnzimmer geschoben, das mit alten Fotos, bestickten Deckchen und einer schier unfassbaren Zahl an Samtkissen ausgestattet war. Die alte Dame verschwand in der Küche. »Setz dich, mein Junge, ich mache uns Tee«, hörte er sie rufen. Der Tod entschied sich für das Sofa. Es war ein sehr weiches Sofa, wie er fand. Ein ausgesprochen gemütliches Sofa. Ein Sofa, das den unbändigen Drang auslöste, ein gutes Buch zu lesen und dabei ein paar Butterkekse zu verzehren. Das hatte er zwar noch nie getan – mangels eines funktionierenden Magens verspürte er keinen Hunger –, aber er war ja auch noch nie in den Genuß gekommen, eine Großmutter zu haben. Geholt hatte er viele – die meisten, eigentlich –, aber mit dieser hier schien es sich anders zu verhalten.
Die Küchentür schwang auf und die alte Dame kehrte mit einem Tablett zurück, das sie mit zittrigen Händen auf dem Tisch abstellte. »So, und jetzt sei ein lieber Junge und lies mir meine Geburtstagspost vor«, sagte sie, während sie versonnen Zucker in ihre Tasse löffelte. Der Tod sah über das Tablett hinweg und zwei Karten auf dem Tisch liegen. Die eine, schloss er, musste von ihrem Zahnarzt stammen, denn darauf waren zwei Kinder zu sehen, die einen überlebensgroßen Backenzahn mit mit noch größeren Bohrern bearbeiteten. »Denken Sie an ihren nächsten Termin!«, stand in Großbuchstaben darunter. Die zweite Karte – und offenkundig die Einzige, die Glückwünsche enthielt – stammte von Dickie:
»Liebe Omi, es tut mir leid, dass ich es nicht zu deinem Geburtstag schaffe. Ich hoffe, du hast einen wunderschönen Tag. Alles Liebe, dein Enkel Dickie.«
Der Tod öffnete den Mund. Zögerte. »Die Karte ist von deiner Cousine Margret«, log er. »Sie entschuldigt sich, dass sie nicht kommen kann.« Das fühlte sich für ihn besser an, auch wenn er mangels eines funktionierenden Herzens streng genommen nicht dazu in der Lage war, etwas zu fühlen. Die alte Dame nickte bedächtig, dann lächelte sie. »Nun, das macht nichts«, sagte sie. »Nächstes Jahr, vielleicht.«
Der Tod stutzte. Das war äußerst irritierend. »Nicht, wenn es nach meiner Liste geht«, wollte er sagen. Er sollte es sagen! Er sollte es hinter sich bringen. Sie stand auf seiner Liste, es gab Regeln. Aber er sagte es nicht. Dafür sprach sie nun wieder, bedankte sich für seinen Besuch und bedeutete ihm, sich vom Sofa zu erheben. »Du weißt, in meinem Alter tut ein Mittagsschläfchen gut«, lachte sie, während sie ihn vor sich her und auf die Tür zu schob. »Ich …«, hob der Tod an, doch ehe er sich versah, stand er schon wieder draußen. »Nächstes Jahr dann«, sagte Mrs. Bradshaw und tätschelte ihm die Hand, was sich in etwa so anfühlte, als hätte eine sehr freundliche, aber entschlossene Schildkröte beschlossen, ihm Trost zu spenden.
»Nächstes Jahr dann«, erwiderte er, als sich die Tür hinter ihm schloss. Er war sich sicher, dahinter ein leises, zufriedenes Kichern zu hören.
Zwölf Jahre – einmal blinzeln, und schon ist ein ganzes Hundeleben vergangen. Ihr seid älter geworden, grauer, manchmal auch störrischer. Die Knochen knacken, die Zähne sind nicht mehr, was sie mal waren, und doch reicht ein Blick aus diesen alten, klugen Augen, und alles ist wie früher: Das Leben ein Spiel, der Tag ein Abenteuer.
Auf dass ihr der Endlichkeit ebenso verschmitzt ins Gesicht lächeln könnt, wie Mrs. Bradshaw. Und wenn irgendwann jemand anklopft und auf seiner Liste nachschaut, dann lasst ihn doch noch ein bisschen warten. Sagt einfach: »Nächstes Jahr dann.« Auf euch, alte Freunde: Twix, Iska, Buddy und Pepper. Und auf die, die vorausgegangen sind: Joey und Beau.
© Johannes Willwacher