
Unser K-Wurf feiert seinen 1. Geburtstag: Zeit, um zurückzublicken. Und vielleicht auch Zeit für eine kleine Bestandsaufnahme – mit Mr. Tidwell am Apparat.
I beg you pardon,
I never promised you a rose garden.
Lynn Anderson (1970)
Mr. Tidwell erwachte, wie er es immer tat, exakt drei Minuten bevor der Wecker klingelte. Daran gab es nichts zu rütteln. Diese drei Minuten gehörten ihm. Ihm ganz allein, und wie an jedem Morgen nutzte er sie, um Zwiesprache mit dem Universum zu halten. Weil das Universum aber auch an diesem Morgen Besseres zu tun hatte, als auf die Bitten eines einfachen Angestellten einzugehen – der zwar, wohlgemerkt, immer pünktlich seine Steuern zahlte, und sich nach Kräften bemühte, nicht nur den eigenen Gehweg, sondern auch den der Nachbarn sauber zu halten –, schrillte nach exakt drei Minuten der Wecker und Mr. Tidwell wurde in die Realität zurückgerufen.
Er schlüpfte in seine Hausschuhe – gefälliges Beige, weich gepolstert, die textile Entsprechung von »Es ist, wie es ist« – und schlurfte in die Küche des verklinkerten Reihenendhauses, das er in Biggin Hill bewohnte, den fast ohrenbetäubenden Lärm der angrenzenden Start- und Landebahn im Mietpreis inbegriffen. Auch dort erwarteten ihn keine Überraschungen: eine Tasse Tee, dessen Geschmack sich am ehesten als »braun« beschreiben ließ, zwei exakt geröstete Toastscheiben, die – nicht zu dick, nicht zu dünn – mit Butter und Orangenmarmelade bestrichen wurden, und eine Banane, die sich noch nicht entschieden hatte, ob sie grün oder gelb sein wollte.
Nach einer Dusche, die exakt sechs Minuten dauerte, schlüpfte er in seine Firmenuniform. Dass der eingestickte Name auf dem mausgrauen Hemd kaum zu erkennen war, störte ihn nicht weiter. In den über zwanzig Jahren, die er nun für die CanisTech tätig war, kannte ihn ohnehin kaum einer der Kollegen beim Namen. Er war ganz einfach »Der Typ aus der Kundenbetreuung«. Graues Hemd, Seitenscheitel. Unauffällig, aber immer da.
Als er sein Fahrrad vor dem sechsstöckigen Gebäude abstellte, das der Firmengründer einst genauso gedankenlos auf die grüne Wiese gestellt hatte, fiel ihm zuerst die neue Werbetafel auf, die man über dem verglasten Eingangsportal angebracht hatte. »Hunde von CanisTech – Weil Perfektion planbar ist!«, stand in serifenloser Schrift unter dem Bild eines finster drein blickenden Spaniels. Mr. Tidwell war sich nicht sicher, ob Spaniel tatsächlich in der Lage waren, finster drein zu blicken, beschloss aber, dem bei Gelegenheit auf den Grund zu gehen. Er trat durch die Drehtür, nickte beiläufig der Empfangsdame zu und reihte sich in der Schlange vor den Aufzügen ein.
An seinem Arbeitsplatz angekommen, betrat er das schallsichere Telefonkabinett – ein trostloser Kunststoffwürfel, der das sinnliche Erlebnis eines Tupperware-Behälters bot – und koppelte sich ein. Der erste Kundennachfassanruf blinkte auf. Er seufzte, zog das passende Datenblatt aus dem Register und drückte auf Wählen.
»Hier ist Marion Tate.« Die Stimme am anderen Ende klang gequält, sodass Mr. Tidwell mutmaßte, die zugehörige Dame habe sich in der Eile das Knie gestoßen – am Telefontischchen, vielleicht. Er räusperte sich. »Guten Tag, hier spricht Mr. Tidwell von der CanisTech Kundenbetreuung. Ich rufe an, um mich nach Ihrer Zufriedenheit mit unserem Produkt zu erkundigen. Wie ich unseren Unterlagen entnehmen kann, ist ihr Border Collie gerade ein Jahr alt geworden. Wie läuft es denn?« Ein lang gezogenes Seufzen. »Ich bin am Ende«, sagte Mrs. Tate. Mr. Tidwell nickte – das war ein Satz, den er kannte. Ein Satz, der mit der gleichen Wahrscheinlichkeit fallen würde, mit der eine gebutterte Scheibe Toast auf die bestrichene Seite fällt – darüber war bereits im ersten Lehrgang für angehende Kundenbetreuer, Schwerpunkt Deeskalation, berichtet worden.
»Am Ende wovon genau, Mrs. Tate?«, erwiderte er schließlich. »Am Ende mit den Nerven! Ich glaube, der Hund ist kaputt!«, gab Mrs. Tate jammernd zurück. Mr. Tidwell nahm einen Stift zur Hand und notierte pflichtbewusst auf seinem Formular: Kunde vermutet Defekt an der Ware. »Könnten Sie den Fehler bitte etwas genauer beschreiben?«
»Der Ärger begann schon, als uns der Postbote das Päckchen überreichte«, sagte Mrs. Tate. »Selbstverständlich mit den vorgeschriebenen Luftlöchern versehen?«, erkundigte sich Mr. Tidwell, was die Kundin bejahte. »Vierzehn Luftlöcher«, kommentierte er, während der Kugelschreiber über das Papier kratzte. »Daran kann es nicht gelegen haben. Oder ist das ihrer Meinung nach eine plausible Erklärung, warum dieser Hund noch immer ausläuft? Er hat meinen Perserteppich ruiniert. Meinen Perserteppich, Mr. Tidwell! Ich bin nachts mit ihm raus, ich habe ihn gelobt, ich habe ihn geschimpft, ich habe auf allen Vieren hinter ihm her gewischt – und wissen Sie, was er dann tut? Mich anschauen. Mit diesem Blick.« Sie schniefte. »Als wäre ich diejenige, die es nicht begreift! Es scheint, als habe dieses Tier von Anfang an kein Interesse an mir gehabt. Egal, was ich ihm vor die Nase halte, es schaut mich nur an, als wäre ich ein besonders uninteressanter Fleck auf der Tapete.« Sie schluchzte. »Mr. Tidwell, wir haben uns so sehr einen Hund gewünscht, der gerne lernt und gerne Zeit mit seinen Menschen verbringt. Aber dieser hier, er mag sich noch nicht einmal streicheln lassen! Manchmal möchte ich am liebsten den ganzen Tag nur weinen!«
»Nun, Mrs. Tate, Border Collies benötigen besonders eine klare Führung. Leckerchen allein …« Die noch immer schluchzende Dame fiel ihm ins Wort. »Führung! Ha! Wissen Sie, was er macht, wenn ich ihn rufe?« Mr. Tidwell zögerte. »Er kommt nicht!« schrie Mrs. Tate empört. »Er verzieht keine Miene! Ich könnte genauso gut meine Teekanne rufen. Nein, wissen Sie was? Die Teekanne würde wahrscheinlich wenigstens ein wenig dampfen!« Mr. Tidwell notierte sachlich: Rückruf unzureichend, unerschütterliche stoische Haltung.
»Und dann erst die Spaziergänge«, fuhr Mrs. Tate atemlos fort. »Ein Albtraum, Mr. Tidwell! Ich brauche beide Hände, um ihn überhaupt zu halten, aber egal, was ich mache – er zieht! Immer zieht er! Erst nach vorn, dann zur Seite, dann wieder nach vorn, als würden wir ein Tennismatch austragen! Und wenn ich stehen bleibe? Dann beginnt er zu kläffen, springt an mir hoch oder –« Sie brach kurz ab, als schämte sie sich für das, was nun folgte. »Oder er zwickt mich, Mr. Tidwell! In die Fesseln! Wie ein … ein … blödes Schaf!« Mr. Tidwell notierte: Leinenführigkeit suboptimal. Hund scheint unterentwickelte Meinung zur Führungsqualitäten der Besitzerin zu haben. »Und dann, Mr. Tidwell, dann wäre da noch die Sache mit meinem Wohnzimmer.« Ihre Stimme bebte. »Oder sollte ich sagen: mit dem, was davon übrig ist!«
»Zerstörungswut?«, fragte Mr. Tidwell routiniert. »Zerstörungswut? Nein, nein, das klingt ja, als hätte er Spaß daran! Er war gerade einmal fünf Monate alt, als ich nach einem Frisörbesuch nach Hause kam. Die Haare standen mir zu Berge! Die Tapeten in Fetzen, die Vorhänge halb abgerissen und – das Sofa, Mr. Tidwell! Unser schönes Sofa! Er hatte sich bis auf das Holzgestell durchgearbeitet!« Mr. Tidwell notierte: Häusliche Umgebung nicht zufriedenstellend, Belastungsprobe nicht bestanden.
»Und das ist noch nicht das Schlimmste!«, fuhr Mrs. Tate fort. »Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, wenn man mitten in der Nacht aufwacht, weil der Hund versucht, die Katze in die Küche zu treiben?« Mr. Tidwell kratzte sich mit dem Kugelschreiber am Kopf. »Ich nehme an, die Katze war wenig begeistert.« Sie lachte kreischend. »Wären Sie begeistert, Mr. Tidwell, wenn man sie mit diesem unheimlichen Blick fixieren würde? Sie wissen schon, dieser Blick, mit dem Border Collies auch jeden entgegenkommenden Radfahrer in Panik versetzen. Die Katze immerhin hat sich inzwischen selbst als Schaf akzeptiert, glaube ich, nur um Ärger zu vermeiden.« Mr. Tidwell seufzte leise und notierte: Ausgeprägter Hütetrieb. Katze steckt womöglich in Identitätskrise fest.
Mrs. Tate schniefte ins Telefon. »Außerdem kann er Türen öffnen, Mr. Tidwell. Türen! Gestern habe ich ihn aus dem Wohnzimmer ausgesperrt, um wenigstens einmal in Ruhe eine Tasse Tee trinken zu können. Wissen Sie, was passiert ist?« Mr. Tidwell überlegte. »Er hat an der Tür gekratzt?« Schallendes Gelächter. »Er hat die Türklinke runtergedrückt und ist einfach hereingeschlendert, als käme er von der Wohnungsbaugesellschaft, um die Miete einzukassieren! Und als ich schließlich mit meinem Tee ins Bad gegangen bin – raten Sie mal! Auch diese Tür hatte der Hund im Handumdrehen entriegelt!« Mr. Tidwell schüttelte den Kopf. »Mrs. Tate, wenn Sie das Produkt umtauschen möchten, weise ich sie gerne auf unsere Rabattaktion bei Deutschen Schäferhunden hin …« Ein entsetzter Schrei unterbrach ihn.
»Oh mein Gott, er kann auch die Haustür!« Es folgte ein lautes Knallen, das Geräusch hastiger Schritte und das sich entfernende Bellen eines Hundes, der keine Leine mehr nötig hatte. Mr. Tidwell hörte noch, wie die Haustür mit voller Wucht ins Schloss fiel. Dann war es still. Er wartete einen Moment. Räusperte sich. Versuchte es mit einem vorsichtigen: »Mrs. Tate?« Nichts.
Mit einem resignierten Seufzen legte er den Kugelschreiber beiseite, drückte zwei Knöpfe auf dem Schaltpult, das sich vor ihm befand, und rückte sein Lächeln zurecht. »CanisTech Kundenbetreuung, Sie sprechen mit Mr. Tidwell.« Am anderen Ende der Leitung erklang eine angespannte Frauenstimme: »Hier ist Susan Jenkins. Es geht um unseren Border Collie … ich glaube, der ist kaputt.« Einen Augenblick lang war nur das ruhige Atmen eines einfachen Angestellten zu hören. »Wie viele Luftlöcher?«, fragte er.
Ob dieser Anruf auch bei einer der Familien hätte landen können, die einen der sechs Welpen unseres K-Wurfs bestellt – Verzeihung – mit nach Hause genommen haben? Nun – ganz auszuschließen ist es nicht. Denn auch bei ihnen ist vermutlich nicht immer alles reibungslos verlaufen. Vielleicht nicht exakt so, wie in der Geschichte von Mr. Tidwell und Mrs. Tate. Aber vielleicht doch so ähnlich.
Denn ein Jahr mit einem Border Collie kann – wie soll man es höflich sagen? – einiges in Bewegung bringen. Das Herz zum Beispiel. Die Gardinenstange. Die eigene Selbstwahrnehmung.
Wir wissen, dass der Weg durch das erste Lebensjahr nicht immer linear verläuft. Dass Lernen Geduld braucht. Und dass es Tage gibt, an denen man sich fragt, wer hier eigentlich wen trainiert. Aber wir hoffen, dass es trotz der »Neins!«, »Runter-das!« und »Wie-kann-man-nurs!« allen gelungen ist zu sehen, was uns an diesem Wurf so begeistert hat: die Klarheit, die Sensibilität, der feine Humor, der manchmal nur in einem einzigen Blick liegt. Und das Potenzial, das noch lange nicht ausgeschöpft ist.
Herzlichen Glückwunsch, ihr sechs K-Kinder. Ihr seid jetzt eins. Und was für eins!
© Johannes Willwacher