Die achte Trächtigkeitswoche: Über das Tragen von Leben, das zu schwer wird. Über Müdigkeit, die Liebe nicht mindert. Und über Worte, die im Bauch wohnen.

Sie schrie­ben sich Brie­fe, obwohl sie in der­sel­ben Stadt leb­ten. Brie­fe mit lan­gen Sät­zen und Wor­ten, die im Mund nach­hall­ten, wenn man sie flüs­ter­te. Sie sag­te ihm, dass Lie­ben ein Verb sei, und er schrieb ihr, dass Lie­be ein Gedicht sei, das nie zu Ende geschrie­ben wird. Sie hat­ten Angst vor Wor­ten, die zu klein waren, Angst vor jenen, die zu groß waren. Also fan­den sie eine neue Spra­che, eine Spra­che, die nur aus Zwi­schen­tö­nen bestand. Eine Spra­che, die in den Räu­men zwi­schen ihren Fin­gern lebte.

Spä­ter, als er fort war, blie­ben die Brie­fe. Sie las sie laut, um sich an den Klang ihrer Stim­men zu erin­nern, an die Art, wie sie ihre Lie­be in Papier gefal­tet hat­ten. Sie zähl­te die Wör­ter, such­te nach Mus­tern, nach Bedeu­tun­gen, die sie über­se­hen hat­te. Ihr Lin­gu­is­tik-Pro­fes­sor hat­te ein­mal gesagt: »Spra­che ist nicht nur ein Mit­tel, sie ist eine Welt.« Sie ver­stand erst jetzt, was er damit gemeint hat­te. Lie­be war eine Welt, die sie gemein­sam erschaf­fen hat­ten – eine Welt aus Wor­ten, die mit jedem gele­se­nen Brief wie­der kurz leben­dig wurde.

Manch­mal ist Lie­be ein Wort, das noch nicht aus­ge­spro­chen wur­de. Ein Herz­schlag, so lei­se, dass er kaum wahr­ge­nom­men wird. Ein Blick, der sich abwen­det, weil er noch nicht sicher ist, ob er blei­ben darf. In die­sem frü­hen Sta­di­um ist das Leben noch ein Geheim­nis, eine Ahnung, die nur in Frag­men­ten exis­tiert. Aber selbst die lei­ses­ten Ver­spre­chen for­men die Welt, noch bevor sie gehört wer­den. Der Beginn einer Liebesgeschichte.

Wie beschreibt man jeman­dem die Welt, der noch nichts gese­hen, nichts gehört, nichts geschmeckt oder gero­chen hat? Des­sen eige­ne Welt nur aus dem dröh­nen­den Herz­schlag der Mut­ter besteht. Und aus sanf­ten Wel­len, die die win­zi­gen Pfo­ten umspü­len? Noch gibt es kei­ne Stim­men, kei­ne ver­trau­ten Geräu­sche, nur das gedämpf­te Rau­schen des Blu­tes, das ste­ti­ge Pochen, das schon immer da gewe­sen ist. Wie beschreibt man einem Wel­pen das, was ihn erwar­tet? Was kennt er schon, außer die­sem war­men Gefühl? Das … auch schon immer da gewe­sen ist. Und in das er hin­ein­ge­bo­ren wer­den wird. Liebe.

Die Hün­din wirkt erschöpft. In der ach­ten Träch­tig­keits­wo­che trägt sie nicht nur Leben, son­dern Last. Sechs zusätz­li­che Kilo sind zu viel für einen ein­zi­gen Kör­per – selbst für einen, der so zuver­läs­sig, so selbst­ver­ständ­lich gibt. Sie fin­det kaum noch Ruhe. Alles drängt, alles schiebt, und nichts lässt sich mehr über­se­hen: In ihrem Bauch tobt das neue Leben, tas­tet, tritt, dreht sich. Manch­mal liegt sie da, seufzt und schaut, als wüss­te sie, dass das nur der Anfang ist. Und doch trägt sie es – nicht klag­los, aber ohne Wider­stand. Mit einem Aus­druck im Blick, der sagt: Ich weiß, wofür.

Manch­mal braucht es kei­ne neu­en Wor­te. Kei­ne Bot­schaf­ten, kei­ne Brie­fe. Weil alles schon gesagt wor­den ist. Nicht mit Tin­te, nicht auf Papier. Mit jeder Regung, mit jedem Herz­schlag. 

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.

© Johannes Willwacher