Die Geburt beginnt: Über Variablen, die sich nicht kontrollieren lassen. Über Algorithmen der Zärtlichkeit. Und über Momente, in denen alles auf Null steht.

Dear, I fear we’­re facing a problem.
The Car­di­gans (1996)

Er sum­mier­te alles: den Moment, in dem er ihm die ers­te Nach­richt auf der App geschickt hat­te. Die ein­deu­ti­gen Fotos, die zwei­deu­ti­gen Emo­jis. Die Fra­ge nach einem Date. Ihre Nach­rich­ten hat­ten das Ergeb­nis längst vor­weg­ge­nom­men. For­meln aus Haut, die kei­nen Beweis brauch­ten. Kein Anfang, kein Ende. Nur Zah­len­rei­hen aus Fin­gern, die über den Kör­per des ande­ren fuh­ren. Danach: wei­te­re Näch­te, wei­te­re Zah­len. Ein Algo­rith­mus, der lang­sam Gestalt annahm.

Er addier­te sei­ne Schrit­te auf dem Flur, teil­te sei­ne Ängs­te durch die Näch­te, die sie gemein­sam ver­brach­ten, und mul­ti­pli­zier­te die Erin­ne­run­gen, die sich in ihm fest­setz­ten. Viel­leicht war Lie­be eine Glei­chung, dach­te er, eine unend­li­che Rei­he von Varia­blen, die sich nie ganz lösen ließ, aber in ihrer Unvoll­stän­dig­keit voll­kom­men war.

Er schrieb ihm Nach­rich­ten, rech­ne­te die Sekun­den aus, bis er ant­wor­te­te. Er zähl­te, wie oft er »Ich« schrieb, »Du« schrieb, »Wir« schrieb. Er sum­mier­te die Tage seit ihrem letz­ten Tref­fen und divi­dier­te das Ergeb­nis durch die Male, die er sei­ne Stim­me gehört hat­te. Er dach­te, wenn er nur lang genug rech­ne­te, wenn er alle Kon­stan­ten fand, könn­te er die Unbe­kann­te ersetzen.

Als er eines Tages nicht mehr ant­wor­te­te, blieb nur noch die Null. Er saß da, sein Han­dy in der Hand, und ver­such­te her­aus­zu­fin­den, was das bedeu­te­te. Viel­leicht, dach­te er, war das Pro­blem nicht die Glei­chung, son­dern dass nicht jede Unbe­kann­te gelöst wer­den konnte.

Der Kör­per der Hün­din gibt das ers­te Signal: Ein leich­ter Tem­pe­ra­tur­ab­fall, ein Bruch­teil von Grad, von außen kaum wahr­nehm­bar. Und doch ist es der Beginn des Unver­meid­li­chen. Sie wird unru­hig, steht auf, legt sich wie­der hin. Rech­net nach, ob noch Zeit bleibt. Ob sie die Glei­chung noch ein­mal umstel­len kann. Aber die Varia­ble ist gesetzt, die Lösung unaus­weich­lich. Bald wird alles auf Null zurück­ge­setzt – und gleich­zei­tig etwas ganz Ande­res anfangen.

So weit den­ke ich noch gar nicht, als Kar­ma mich gegen halb sechs weckt. Ich den­ke, dass ihre Bla­se drückt. Dass die ers­te Mahl­zeit, die sie seit zwei Wochen schon gleich nach dem Auf­ste­hen bekommt, für sie schnell zur Gewohn­heit – und für mich zur Pflicht – gewor­den ist. Und dass ich mir die Tem­pe­ra­tur­kon­trol­le auch noch für spä­ter auf­he­ben kann. Am Vor­abend lag die­sel­be schließ­lich auch noch im Nor­mal­be­reich – und weil sich in der Ver­gan­gen­heit noch kei­ne unse­rer Hün­din­nen am 59. Träch­tig­keits­tag dazu ent­schlos­sen hat, die Geburt ein­zu­lei­ten, bin ich mir ziem­lich sicher, noch Zeit zu haben. Viel Zeit.

Falsch gerech­net: um halb acht mes­se ich 36,8 Grad – und eine Stun­de spä­ter 36,7. Um elf Uhr liegt die Tem­pe­ra­tur schließ­lich bei 36,5 Grad. Ob sie noch wei­ter absinkt oder wen Tief­punkt bereits erreicht haben, wer­den die kom­men­den Stun­den zei­gen. Unse­re Wel­pen zumin­dest haben sich aus­ge­rech­net, dass das ers­te August­wo­chen­en­de her­vor­ra­gend taugt, um Geburts­tag zu feiern.

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.

© Johannes Willwacher