Die Geburt: Über Sekunden, die die Welt verändern. Über Vertrautheit ohne Vorgeschichte – und Liebe auf den ersten Blick.

Er wuss­te nicht, wie lan­ge es dau­er­te. Ob es Sekun­den waren oder Minu­ten oder ob sein Gehirn sich ein­fach wei­ger­te, die Zeit mit­zu­zäh­len. Der Bass vibrier­te durch sei­nen Brust­korb, Stro­bo­skop­lich­ter lie­ßen die Bewe­gun­gen um ihn her­um in Ein­zel­bil­der zer­fal­len. Und dann – ein Blick, ein Sekun­den­bruch­teil, in dem alles still­zu­ste­hen schien.

Er wuss­te, dass das unmög­lich war. Dass das Gehirn in Bruch­tei­len von Sekun­den Gesich­ter ana­ly­sier­te, Mus­ter erkann­te, Erin­ne­run­gen abglich. Dass das Gefühl, jeman­den zu ken­nen, oft nur ein Trug­schluss war, ein Trick des Geis­tes. Und doch – als ihr Blick sich zwi­schen den zucken­den Lich­tern ver­fing, als er sich durch die Men­ge beweg­te, fühl­te es sich nicht nach Zufall an.

Spä­ter wür­de er nach­le­sen, dass das Gehirn Dopa­min aus­schüt­tet, wenn etwas Neu­es und Auf­re­gen­des geschieht. Dass das Ver­liebt­sein sich wie ein Feu­er­werk im Kopf ent­fal­tet, unkon­trol­lier­bar, rausch­haft. Aber in die­sem Moment dach­te er nur: Da bist du ja.

Neugeborener Border Collie Welpe

In den ers­ten Sekun­den ent­schei­det das Gehirn, ob etwas ver­traut ist oder fremd, ob es bleibt oder ver­geht. Die Wel­pen wer­den gebo­ren, noch blind, noch taub, und doch wis­sen sie sofort, wo sie hin­ge­hö­ren. Sie rie­chen, sie tas­ten, sie suchen – und sie fin­den. Das ers­te Ankom­men ist kein Zufall, kein Ver­such. Es ist Instinkt. Der ers­te Geruch der Mut­ter, die Wär­me, die Zun­ge, die sie tro­cken leckt. Der ers­te Ruf der Welt, noch ohne Wor­te, aber mit einer Gewiss­heit, die stär­ker ist als jeder bewuss­te Gedan­ke: Da bist du ja.

Ich habe mir gera­de erst den Schlaf aus den Augen gerie­ben, als der ers­te Wel­pe gebo­ren wird – kei­ne zehn Minu­ten sind zwi­schen Bla­sen­sprung und Geburt ver­gan­gen. Eng anein­an­der geku­schelt lie­gen Dirk und Kar­ma auf dem schma­len Gäs­te­bett – für den Umzug in die Wurf­kis­te ist es zu spät. Die erst­ge­bo­re­ne Hün­din wird also noch an Ort und Stel­le von den Frucht­hül­len befreit und abge­na­belt, bevor der zwei­te Wel­pe – eine wei­te­re Hün­din – zwan­zig Minu­ten spä­ter zur Welt kommt. Dies­mal über­nimmt Kar­ma schon alles selbst – genau­so beim drit­ten, vier­ten und fünf­ten Wel­pen, die in den nächs­ten zwei Stun­den nicht weni­ger mühe­los gebo­ren wer­den. Unse­re Auf­ga­ben beschrän­ken sich dar­auf, zu loben und zu bestä­ti­gen, die Wel­pen zu wie­gen – und das Laken zu wech­seln, wenn es zu nass gewor­den ist. Viel­leicht auch dar­auf, zu schau­en, zu stau­nen – uns zu ver­lie­ben. Weil man das Herz – oft genug – schon beim ers­ten Blick an einen Wel­pen verliert.

01:55 Uhr: Wel­pe No. 1 – Hün­din, 278 Gramm
02:20 Uhr: Wel­pe No. 2 – Hün­din, 280 Gramm
02:40 Uhr: Wel­pe No. 3 – Rüde, 292 Gramm
03:50 Uhr: Wel­pe No. 4 – Rüde, 306 Gramm
04:15 Uhr: Wel­pe No. 5 – Hün­din, 350 Gramm

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.


© Johannes Willwacher