Die sechste Lebenswoche: Über Erkennen und Erkanntwerden – und warum nicht aus jedem fragenden Blick der Anfang einer lebenslangen Geschichte wird.
All the places you have been
trying to find a love supreme.
Robbie Williams (2000)
Es war die Frage, die nie gestellt wurde, und doch lag sie immer in der Luft: Warum lieben wir?
Sie sah ihn nur noch selten. Termine, Flüge, Verpflichtungen. Manchmal rief er an, aber meistens schrieb er nur. »Alles gut?« – »Ja, du?« – »Ja, auch.« Worte, die gerade genug sagten, um nichts zu sagen. Und doch stand sie jedes Mal vor dem Fenster, wenn er ihr schrieb, als würde die Antwort sich in den Lichtern der Stadt spiegeln.
»Manchmal frage ich mich, ob es einen Grund gibt«, sagte er eines Abends, als er sie besuchte. »Warum wir uns binden. Warum wir nicht einfach weiterziehen. Warum wir immer wieder zurückkehren.« Sie stellte ihm seinen Teller hin, dampfender Reis mit Zitronenschale, genau so, wie er ihn als Kind geliebt hatte. »Vielleicht, weil es keinen besseren Grund gibt als das.«
Er wollte widersprechen, eine große Theorie ausbreiten, über Evolution, über Philosophen, über freie Entscheidungen. Aber dann nahm er den ersten Bissen, schmeckte Kindheit, Geborgenheit, eine Zeit, in der solche Fragen keine Rolle gespielt hatten. Vielleicht, dachte er, war das genug. Vielleicht war Liebe kein Warum, sondern ein Ist.
Ich schaue den Welpen an. Mein Blick folgt ihm, während er voran läuft. Ich warte. Sucht er meinen Blickkontakt? Oder fordert er die Welt heraus? Bleibt er stehen, bevor er springt, oder springt er, bevor er denkt? Es sind keine einfachen Antworten, keine schnellen Entscheidungen. Nur ein langsames Erkennen, ein Annähern an das, was längst in ihm angelegt ist. Eine Ahnung, zuerst nur. Eine Erinnerung an einen anderen Welpen. Ein bisschen Erfahrung. Wer wird wo sein Zuhause finden? Eine Entscheidung, die niemals leichtfertig getroffen werden mag.
Manchmal, in solchen Momenten, denke ich an Emmanuel Levinas. Ein Philosoph, der ein ganzes Leben darauf verwendet hat, über das Gesicht des Anderen nachzudenken. Er hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass seine Gedanken eines Tages in einem Welpenauslauf landen würden. Und doch passt es erstaunlich gut. Denn Levinas schrieb, dass der Blick des Anderen immer schon eine Forderung sei – still, unausgesprochen, aber unbedingt. Ein »Ich bin hier, erkennst du mich?«
Vielleicht ist es genau das, was ich im Auge jedes Welpen suche: kein Wissen, keine schnelle Antwort, sondern dieses leise Versprechen, dass er gesehen werden will. Dass er den Kopf leicht schief legt, als würde er fragen, ob er gemeint ist. Dass er die Welt anschaut, als wolle er wissen, ob sie ihn zurück anschaut.
Die Kynologen nennen es Prägung. Die Philosophen würden sagen: Hier beginnt Verantwortung. Für mich ist es das Herz des Züchterseins – dieses stille, sanfte Erkennen. Kein Zwang, kein Formen. Nur ein Warten, ein Begleiten, ein sich Öffnen. Und die Hoffnung, dass aus diesem zarten Anfang einmal eine große Geschichte wird – zwischen einem Hund und einem Menschen, die einander noch nicht kennen, aber längst füreinander bestimmt sind.
Das 6. Fotoshooting
Die 6. Lebenswoche
What is Love?
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© Johannes Willwacher