Die sechste Lebenswoche: Über Erkennen und Erkanntwerden – und warum nicht aus jedem fragenden Blick der Anfang einer lebenslangen Geschichte wird.

Es war die Fra­ge, die nie gestellt wur­de, und doch lag sie immer in der Luft: War­um lie­ben wir?

Sie sah ihn nur noch sel­ten. Ter­mi­ne, Flü­ge, Ver­pflich­tun­gen. Manch­mal rief er an, aber meis­tens schrieb er nur. »Alles gut?« – »Ja, du?« – »Ja, auch.« Wor­te, die gera­de genug sag­ten, um nichts zu sagen. Und doch stand sie jedes Mal vor dem Fens­ter, wenn er ihr schrieb, als wür­de die Ant­wort sich in den Lich­tern der Stadt spiegeln.

»Manch­mal fra­ge ich mich, ob es einen Grund gibt«, sag­te er eines Abends, als er sie besuch­te. »War­um wir uns bin­den. War­um wir nicht ein­fach wei­ter­zie­hen. War­um wir immer wie­der zurück­keh­ren.« Sie stell­te ihm sei­nen Tel­ler hin, damp­fen­der Reis mit Zitro­nen­scha­le, genau so, wie er ihn als Kind geliebt hat­te. »Viel­leicht, weil es kei­nen bes­se­ren Grund gibt als das.«

Er woll­te wider­spre­chen, eine gro­ße Theo­rie aus­brei­ten, über Evo­lu­ti­on, über Phi­lo­so­phen, über freie Ent­schei­dun­gen. Aber dann nahm er den ers­ten Bis­sen, schmeck­te Kind­heit, Gebor­gen­heit, eine Zeit, in der sol­che Fra­gen kei­ne Rol­le gespielt hat­ten. Viel­leicht, dach­te er, war das genug. Viel­leicht war Lie­be kein War­um, son­dern ein Ist.

Ich schaue den Wel­pen an. Mein Blick folgt ihm, wäh­rend er vor­an läuft. Ich war­te. Sucht er mei­nen Blick­kon­takt? Oder for­dert er die Welt her­aus? Bleibt er ste­hen, bevor er springt, oder springt er, bevor er denkt? Es sind kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten, kei­ne schnel­len Ent­schei­dun­gen. Nur ein lang­sa­mes Erken­nen, ein Annä­hern an das, was längst in ihm ange­legt ist. Eine Ahnung, zuerst nur. Eine Erin­ne­rung an einen ande­ren Wel­pen. Ein biss­chen Erfah­rung. Wer wird wo sein Zuhau­se fin­den? Eine Ent­schei­dung, die nie­mals leicht­fer­tig getrof­fen wer­den mag.

Manch­mal, in sol­chen Momen­ten, den­ke ich an Emma­nu­el Levi­n­as. Ein Phi­lo­soph, der ein gan­zes Leben dar­auf ver­wen­det hat, über das Gesicht des Ande­ren nach­zu­den­ken. Er hät­te sich wohl nicht träu­men las­sen, dass sei­ne Gedan­ken eines Tages in einem Wel­pen­aus­lauf lan­den wür­den. Und doch passt es erstaun­lich gut. Denn Levi­n­as schrieb, dass der Blick des Ande­ren immer schon eine For­de­rung sei – still, unaus­ge­spro­chen, aber unbe­dingt. Ein »Ich bin hier, erkennst du mich?«

Viel­leicht ist es genau das, was ich im Auge jedes Wel­pen suche: kein Wis­sen, kei­ne schnel­le Ant­wort, son­dern die­ses lei­se Ver­spre­chen, dass er gese­hen wer­den will. Dass er den Kopf leicht schief legt, als wür­de er fra­gen, ob er gemeint ist. Dass er die Welt anschaut, als wol­le er wis­sen, ob sie ihn zurück anschaut.

Die Kyno­lo­gen nen­nen es Prä­gung. Die Phi­lo­so­phen wür­den sagen: Hier beginnt Ver­ant­wor­tung. Für mich ist es das Herz des Züch­ter­seins – die­ses stil­le, sanf­te Erken­nen. Kein Zwang, kein For­men. Nur ein War­ten, ein Beglei­ten, ein sich Öff­nen. Und die Hoff­nung, dass aus die­sem zar­ten Anfang ein­mal eine gro­ße Geschich­te wird – zwi­schen einem Hund und einem Men­schen, die ein­an­der noch nicht ken­nen, aber längst für­ein­an­der bestimmt sind.

Das 6. Fotoshooting

Die 6. Lebenswoche

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.

© Johannes Willwacher