Die siebte Lebenswoche: Über Spiel und Ernst, über Linien und Wesen – und darüber, wie aus einem Welpen vielleicht einmal ein ganzer Hund wird.

Er hat­te immer gedacht, dass Lie­be ein Gegen­spiel war. Ein Geben und Neh­men, ein Balan­ce­akt, ein Test der Geduld. Dann bekam er den Hund.

Plötz­lich gab es kei­ne Regeln mehr, kei­ne Gleich­stän­de, kei­ne Stra­te­gie. Es gab nur zwei Din­ge: abso­lu­te Hin­ga­be oder völ­li­ge Gleich­gül­tig­keit. Der Hund wähl­te das Ers­te. Er folg­te ihm durch jede Tür, leg­te sich mit einem lei­sen Seuf­zen zu sei­nen Füßen, war­te­te an der Haus­tür, wenn er ein­kau­fen ging. Er ver­lor immer, weil er zu spät ver­stand, dass es kein Spiel war.

»Es geht nicht ums Gewin­nen«, sag­te eine Bekann­te ein­mal zu ihm, als er sich dar­über beschwer­te, dass der Hund ihn durch die gan­ze Woh­nung ver­folg­te. »Er spielt kein Spiel mit dir. Du bist sein Mensch, sein gan­zes Leben. Er war­tet, er folgt, er liebt – weil du alles für ihn bist.«

Er betrach­te­te ihn, die­ses zot­te­li­ge Wesen, das sei­nen Kopf auf sei­ne Knie leg­te und ihn ansah, als gäbe es nichts Wich­ti­ge­res auf der Welt. Viel­leicht, dach­te er, war das die ein­zi­ge Lie­be, bei der nie­mand ver­lor. Weil einer sich immer sicher war.

Border Collie Welpe in der 7. Lebenswoche

Das Leben ist ein Spiel – das muss man einem Wel­pen eigent­lich gar nicht erst bei­brin­gen. Sie jagen, ren­nen, sprin­gen, mes­sen ihre Kräf­te, und wenn sie dabei übers Ziel hin­aus­schie­ßen, wird eben laut pro­tes­tiert. Der eine spielt auf Sieg, der ande­re auf Cha­os, ein drit­ter nur, um am Ende als Ers­ter auf dem Schoß zu lan­den. Es geht um Stra­te­gien, um Regeln, um das Aus­tes­ten von Gren­zen – aber das Wich­tigs­te bleibt: Man spielt nur mit denen, die man mag. Viel­leicht ist es so ein­fach. Viel­leicht ist das die bes­te aller Spieltheorien.

Und doch: Für den Züch­ter beginnt in die­ser sieb­ten Woche eine erns­te Pha­se. Denn hin­ter jedem tap­si­gen Spiel, hin­ter jedem schein­bar zufäl­li­gen Ver­hal­ten ver­ber­gen sich ers­te Hin­wei­se. Wer reagiert auf ein unge­wohn­tes Geräusch mit Neu­gier, wer mit Scheu? Wer sucht sofort die Nähe des Men­schen, wer bleibt lie­ber in der Mit­te der Grup­pe? Stu­di­en zei­gen, dass sol­che frü­hen Reak­tio­nen zwar kei­ne end­gül­ti­ge Vor­her­sa­ge erlau­ben, aber Mus­ter sicht­bar machen kön­nen – gera­de wenn es um die Ent­schei­dung geht, wel­cher Wel­pe wo sein Zuhau­se fin­den wird. Wäh­rend die Tests im Alter von sie­ben bis acht Wochen zwar immer nur Moment­auf­nah­men sind – geprägt von Hun­ger, Müdig­keit oder Tages­form –, ver­dich­ten sich die ein­zel­nen Beob­ach­tun­gen über Tage und Wochen doch zu einem Bild. Nicht, wer der »bes­te« Wel­pe ist, son­dern wel­cher der rich­ti­ge für wel­che Auf­ga­be, für wel­chen Menschen.

Und schließ­lich: Rich­tet der Blick sich nicht nur auf das Ver­hal­ten, son­dern auch auf das Exte­ri­eur – die Pro­por­tio­nen und Win­ke­lun­gen, die Rücken­li­nie und Brust­tie­fe. Ein kor­rek­tes Gebäu­de, sta­bi­le Gelen­ke, ein gera­der, fes­ter Rücken bei gleich­zei­tig guter Bemus­ke­lung, alles har­mo­nisch pro­por­tio­niert – all das zählt, beson­ders wenn man dar­an denkt, wel­cher Wel­pe spä­ter mög­li­cher­wei­se Zucht­hund wer­den kann. Es sind frü­he Ein­drü­cke, Moment­auf­nah­men – und doch legen sie die Spur für das, was ein­mal wer­den könn­te: ein Hund, der nicht nur dem Stan­dard ent­spricht, son­dern ihn trägt.

Der Stan­dard spricht von Aus­ge­gli­chen­heit. Von einem Kör­per, der in Bewe­gung so selbst­ver­ständ­lich wirkt, als könn­te er gar nicht anders. Wor­te, die sich schwer grei­fen las­sen – bis man sie in einem Wel­pen sieht. Im Aus­druck, in der Ver­spre­chung eines frei­en Gang­werks. In der Tie­fe des Brust­korbs, die ahnen lässt, dass hier Platz ist für Kraft und Aus­dau­er. In den Pro­por­tio­nen, die nicht aus der Rei­he fal­len, son­dern ein Bild von Ganz­heit erge­ben. Noch ist alles zart, noch ist vie­les im Wer­den. Aber manch­mal genügt ein ein­zi­ger Blick, um zu spü­ren: Hier stimmt etwas. Hier fügt sich Form zu Funktion.

Und viel­leicht ist es genau hier, wo sich alles ver­bin­det: das Spiel, das Wesen, die Form. Denn am Ende geht es nicht dar­um, den »bes­ten« Wel­pen zu fin­den, son­dern den­je­ni­gen, der im Gan­zen stimmt – für sei­ne Auf­ga­be, für sei­nen Men­schen, für sei­ne Zukunft. Der Stan­dard gibt die Lini­en vor, das Ver­hal­ten füllt sie mit Leben, und die Lie­be fügt bei­des zusam­men. So, dass aus Pro­por­tio­nen Per­sön­lich­keit wird, aus Bewe­gung ein Ver­spre­chen und aus einem klei­nen, wack­li­gen Kör­per ein Hund, der eines Tages Herz und Augen eines Men­schen erobern wird – ganz so, wie es nur die Lie­be kann.

Das 7. Fotoshooting

Die 7. Lebenswoche

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.

© Johannes Willwacher