Die achte Lebenswoche: Über Hände, die tragen, und Hände, die loslassen – und warum Fürsorge vielleicht auch in den Genen liegt.

Er hat­te sich auf vie­les vor­be­rei­tet. Auf durch­wach­te Näch­te, auf das Gewicht von Ver­ant­wor­tung, auf eine Lie­be, die so groß war, dass sie ihm Angst mach­te. Aber er hat­te nicht damit gerech­net, dass sie so klein sein wür­de. So klein, dass sie in eine ein­zi­ge Hand passte.

Er betrach­te­te sie, als wäre sie ein Rät­sel, das er nicht lösen konn­te. Ihr Gesicht zer­knit­tert, die Fin­ger win­zig, ein gan­zes Uni­ver­sum an Mög­lich­kei­ten in einem ein­zi­gen Atem­zug. Sie kann­te ihn noch nicht, aber ihr Kör­per wuss­te bereits, dass er da war. Dass er die Stim­me war, die sie im Bauch gehört hat­te. Dass er nach ihr roch und sie nach ihm.

Er hat­te ein­mal gele­sen, dass Babys instink­tiv nach Nähe suchen. Dass das Bedürf­nis nach Gebor­gen­heit in der DNA gespei­chert ist, wei­ter­ge­ge­ben von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on. Dass Lie­be kein Kon­zept ist, son­dern ein Reflex. Als sie sei­ne Hand umklam­mer­te – nicht bewusst, nur weil ihre Mus­keln es so vor­ga­ben – fühl­te es sich trotz­dem an wie eine Entscheidung.

Er wuss­te nicht, wer sie sein wür­de, in zehn, zwan­zig Jah­ren. Aber er wuss­te, dass sie immer nach Hau­se kom­men konn­te. Dass etwas in ihr ihn immer erken­nen wür­de, egal, wie weit sie sich ent­fern­te. Dass es Din­ge gab, die man nicht erler­nen muss­te, weil sie schon immer da waren.

8 Wochen alte Border Collie Welpen

Du hast mich gese­hen, bevor ich mich kann­te. Hast mich gehal­ten, bevor ich ste­hen konn­te. Hast gewusst, dass ich gehen wer­de – und mich trotz­dem geliebt. Die letz­te Woche ist angebrochen.

Acht Wochen sind ver­gan­gen. Acht Wochen vol­ler Anfän­ge: Augen, die sich öff­ne­ten, Stim­men, die zum ers­ten Mal rie­fen, Schrit­te, die wack­lig began­nen und bald schon mutig wur­den. Acht Wochen, in denen aus blin­den, tas­ten­den Wel­pen klei­ne Per­sön­lich­kei­ten gewor­den sind – laut oder lei­se, for­dernd oder gelas­sen, jeder schon ganz er selbst.

Und nun ste­hen sie da, die Wel­pen. Fer­tig und doch noch ganz am Anfang. Bereit, die ver­trau­te Welt zu ver­las­sen – und zu denen zu gehen, die auf sie war­ten. Für uns ist es der schwers­te Teil: los­zu­las­sen. Für sie ist es der natür­lichs­te. Sie ken­nen kei­ne Angst vor der Zukunft, nur die Gewiss­heit, dass über­all Hän­de sein wer­den, die sie hal­ten. Jeder Wel­pe hat sein Zuhau­se. Jeder hat sei­ne Men­schen, sei­ne Zukunft – und sei­nen Namen, der ihn von nun an rufen wird.

Manch­mal den­ke ich: Für­sor­ge ist die ältes­te Form der Lie­be. Sie ist nicht erfun­den, nicht gelernt, son­dern ein­ge­schrie­ben – in Gene, in Instink­te, in die Art, wie ein Lebe­we­sen den ande­ren ansieht. Ohne sie hät­te kein Wel­pe über­lebt, kei­ne Linie Bestand gehabt. Und so tra­gen auch die­se klei­nen Kör­per das uralte Pro­gramm in sich: sich bin­den, Nähe suchen, gehal­ten wer­den wol­len. Es ist Gene­tik, gewiss. Aber es fühlt sich an wie Liebe.

Viel­leicht ist das die Wahr­heit, die alle Lie­der über Lie­be mei­nen: dass sie nicht auf­hört, wenn der Moment endet. Dass sie nicht ver­schwin­det, wenn ein Wel­pe aus der Tür getra­gen wird. Sie bleibt – als Abdruck in der Erin­ne­rung, als Spur im Herz­schlag, als etwas, das stär­ker ist als Ent­fer­nung. 

Die letz­te Woche ist ange­bro­chen. Und mit ihr die Gewiss­heit: Was in acht Wochen gewach­sen ist, bleibt.

Das 8. Fotoshooting

Die 8. Lebenswoche

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.


© Johannes Willwacher