Der Abschied: Über Nähe, die sich wandelt, über Hoffnung, die weiterträgt – und ein Versprechen, das keine Entfernung kennt.

Sie hat­ten ihr gan­zes Leben mit­ein­an­der ver­bracht. Zwei Tas­sen auf dem­sel­ben Früh­stücks­tisch, zwei Stim­men, die die­sel­ben Geschich­ten immer wie­der erzähl­ten, weil nie­mand sie so gut kann­te wie der ande­re. Zwei Hän­de, die sich such­ten, selbst wenn das Licht längst gelöscht war.

Jetzt saßen sie neben­ein­an­der, sei­ne Hand auf ihrer, ihre Haut dünn wie Per­ga­ment. Das Kran­ken­haus­zim­mer war still, nur das Sum­men der Gerä­te und das lei­se Ticken der Uhr. »Weißt du noch?«, frag­te sie. Er nick­te. Es gab so vie­les, an das er sich erin­ner­te. An den ers­ten schüch­ter­nen Kuss im Schat­ten der Cur­ry­wurst­bu­de. An die Brie­fe, die sie sich schrie­ben, als sie jung waren und dach­ten, die Welt wür­de ewig so blei­ben. Die end­lo­sen Näch­te, in denen sie sich strit­ten, lieb­ten, ver­söhn­ten. Die Jah­re, die ver­gin­gen, wäh­rend sie dach­ten, sie hät­ten noch so vie­le vor sich.

»Es fühlt sich nicht wie ein Abschied an«, sag­te sie lei­se. Er wuss­te, was sie mein­te. Seit Jah­ren hat­ten sie in den­sel­ben Atem­zü­gen gespro­chen, ihre Gedan­ken so oft geteilt, dass ihre Wor­te sich naht­los inein­an­der­füg­ten. »Ich wer­de war­ten«, sag­te sie schließ­lich, »wo auch immer das ist.« Er lächel­te, drück­te ihre Hand. Viel­leicht war Lie­be nichts ande­res als das – ein Licht, das nicht ver­löscht, ein Glau­be, der kei­nen Beweis braucht. Ein Ver­spre­chen, das bleibt, auch wenn alles ande­re vergeht.

Border Collie Welpe bei der Abholung

Man­che Abschie­de sind end­gül­tig, ande­re nur ein Über­gang. Man­che las­sen eine Lücke, ande­re hin­ter­las­sen ein Licht. Die Wel­pen wer­den gehen, so wie sie gehen müs­sen. Aber das, was bleibt, ist mehr als nur eine Erin­ne­rung. Es ist ein Band, das auch über Ent­fer­nun­gen hin­weg hält. Denn Lie­be – ech­te Lie­be – ver­löscht nicht. Sie leuch­tet wei­ter, in den Spu­ren, die sie hinterlässt.

Viel­leicht ist es so: dass Din­ge nie ein­fach ver­schwin­den. Kier­ke­gaard schrieb ein­mal, Hoff­nung sei das Erwar­ten des Guten auch dann, wenn es uns ver­bor­gen bleibt. Viel­leicht ist genau das die Hal­tung, die uns jetzt bleibt: nicht zu wis­sen, son­dern zu hoffen.

Die Wel­pen, die fort­ge­gan­gen sind, lie­gen nun in frem­den Hän­den, die bald ver­traut wer­den. In neu­en Räu­men, die sich erst noch mit dem Geruch von Zuhau­se fül­len wer­den. Und ich den­ke: Viel­leicht ist es mit uns Men­schen nicht anders. Viel­leicht zeigt sich Lie­be genau dar­in, dass sie über Gren­zen hin­aus Bestand hat – durch Türen, die ins Schloss fal­len, über Kilo­me­ter, die zwi­schen Häu­sern lie­gen, viel­leicht sogar über die Zeit selbst.

Ich stel­le mir vor, dass all die Fäden, die ein­mal geknüpft wur­den, unsicht­bar wei­ter­lau­fen. Dass die Bli­cke der Wel­pen uns noch errei­chen, selbst wenn sie schon anders­wo schla­fen. Und dass die Hand, die man jetzt los­las­sen muss – die Pfo­te, das Köpf­chen, das nach neun Wochen viel zu ver­trau­te Gesicht –, eines Tages wie­der die eige­ne fin­den wird. Nicht hier, viel­leicht nicht mor­gen, aber irgend­wo. Viel­leicht im Traum, viel­leicht in einer Erin­ne­rung, die so stark ist, dass sie Wirk­lich­keit bleibt. Viel­leicht in einer Ewig­keit, die nicht wie ein Ende wirkt, son­dern wie ein Anfang, nur anders erzählt.

Abschied ist kein Punkt, den­ke ich also. Abschied ist ein Kom­ma. 

Danach kommt ein neu­er Satz.

Die 9. Lebenswoche

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.


© Johannes Willwacher