Die sechste Woche: über die Wesensentwicklung beim Welpen und welche Beobachtungen die Zeit außerdem mit sich bringt – wenn der Züchter sie sich nimmt.
Wenn du in Gedanken ein Feld zeichnest, das du mit einer horizontalen und einer vertikalen Achse versiehst, die sich in der Mitte überschneiden, auf beiden Achsen aufsteigende Werte einträgst, die gegensätzlichen Wesensmerkmalen zugeordnet sind und bei denen der höhere Zahlenwert die deutlichere Ausprägung eines Merkmals beschreibt – dann weißt du, was im Kopf eines Züchters vor sich geht, wenn du ihn danach fragst, was er dir über diesen oder jenen Welpen sagen kann. Das Koordinatensystem selbst bleibt dabei aber niemals starr, verändert sich im Laufe der Wochen, so wie der Welpe sich durch das Zutun des Züchters verändert. Dort, wo einmal Defizite aufgefallen sind, wird sich ein guter Züchter immer darum bemühen, einen Ausgleich zu schaffen – Zurückhaltung mit Selbstbewusstsein zu füttern, zu korrigieren, wo sich ein Welpe zu forsch verhält –, und frühzeitig versuchen, die individuellen Vorlieben und Stärken zu erkennen, um den Welpen in seiner Entwicklung bestmöglich fördern zu können. Kannst du dir vorstellen, wie groß dieses Feld ist? Wie schwer es fällt, den Überblick zu behalten? Und wie leicht du am einen Ende aus den Augen verlierst, was sich am anderen gerade tut? Vergiss Algebra, Analysis und Mengenlehre – eine gute, gewissenhafte Prägung ist oft noch schwieriger als höhere Mathematik.
Wieder einmal sitze ich mitten im Auslauf, fünf aufgeweckte Welpen um mich herum. Das ist kein ungewöhnliches Bild: wann auch immer ich das quietschende Türgitter zum Welpenauslauf öffne, kommen die Welpen freudig auf mich zugelaufen, ziehen sich übermütig an meinen Beinen hoch und wollen gestreichelt werden. Während mir bei früheren Würfen hier schon oftmals Streitigkeiten aufgefallen sind und manch einer versucht hat, sich schnappend gegen die Geschwister zu behaupten, sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, lassen sich die Fünf gerne gegenseitig gewähren – keiner kommt zu kurz, jeder kommt mal dran. Schon die Begrüßung fällt aber bei jedem Welpen ein wenig anders aus. Der eine zeigt sich forsch und fordernd, sitzt immer zuerst auf meinem Schoß, versucht die Zähne in meinem Shirt zu vergraben oder mit weit ausgestreckten Pfoten nach meinem Gesicht zu angeln – Quinn und Sissi wären hier besonders zu erwähnen. Molly, Finn und Fellow haben es vielmehr auf meine Hände abgesehen, die mit dem spitzzahnigen Welpengebiss mal mehr, mal weniger zärtlich vereinnahmt werden – alle drei lassen sich aber auch gerne davon überzeugen, dass Hände nicht nur zum Beißen taugen, drehen sich vor mir freimütig auf den Rücken und von mir den runden Welpenbauch kraulen. Auch das bemerke ich als deutlichen Unterschied zu früheren Würfen, in denen es immer einen oder zwei Welpen gab, die es kaum zulassen konnten, sich zu unterwerfen und mir die Oberhand zu lassen – weder freiwillig, noch erzwungen: unter den Fünfen gibt es keinen, der nicht von sich aus angekrochen kommt, sich an mich kuschelt und voller Vertrauen auf den Rücken wirft. Gerauft wird natürlich trotzdem – mit mir und auch miteinander. Aber es geht dabei bedeutend ausgeglichener zu, als bei den meisten unserer früheren Würfe. Nein, nicht nur ausgeglichener, sondern auch sehr viel leiser. Wo in meinem Koordinatensystem trage ich das nun ein? Und unter welchem Begriff?
Dominanz und Unterwürfigkeit, Aufgeschlossenheit und Zurückhaltung, Selbständigkeit und Anhänglichkeit – während der Welpenaufzucht finden sich viele Begriffspaare, die sich auf den Achsen des gedachten Koordinatensystems gegenüberstellen lassen. Mit unseren Fünfen bin ich mehr als zufrieden. Wenn du in Gedanken ein Feld zeichnest und fünf Welpen als Punkte darin vermerkst: blüht dein Feld dann? Meins tut es. Es blüht. Und wie.
Gleich zwei Ausflüge und zwei Autofahrten haben wir in den vergangenen Tagen mit den Welpen in den Abendstunden unternommen: in das Naturschutzgebiet an der Breitenbachtalsperre bei Waigandshain und auf den ehemaligen Truppenübungsplatz der Bundeswehr zwischen Westerburg und Ailertchen. Die großen, offenen Wiesen- und Weideflächen haben unseren fünf Border Collie Welpen gut gefallen – und mit vielen unbekannten Gerüchen ganz bestimmt nicht nur die Nasen, sondern mit frischem Heu, Schotter, Kies und Asphalt auch die Pfoten herausgefordert.
© Johannes Willwacher