Die fünfte Trächtigkeitswoche: Über das, was noch nicht sichtbar ist. Über Formen, die sich bilden. Und über Liebe, die schon wirkt, bevor sie verstanden wird.

Als sie zehn war, lag sie oft nachts wach und hör­te, wie ihre Eltern im Neben­zim­mer flüs­ter­ten. Sie wuss­te nicht, was sie sag­ten, aber sie wuss­te, dass es wich­tig war. Sie übte vor dem Spie­gel, wie man jeman­den ansieht, ohne etwas zu sagen, aber mit allem, was man meint. Jah­re spä­ter, als sie ihn ken­nen­lern­te, tat er das glei­che. Er sah sie an, als wäre sie das Ein­zi­ge, das er in die­ser Welt jemals fin­den wür­de. Und viel­leicht war das die Art von Lie­be, auf die sie sich geei­nigt hat­ten, lan­ge bevor sie sich trafen.

Sie ver­stand damals nicht, war­um sie immer wie­der Men­schen such­te, die ihr das gaben, was ihr als Kind fehl­te. Sie wuss­te nicht, dass ihre Sehn­sucht nicht nur ihm galt, son­dern dem Echo ver­gan­ge­ner Stim­men. Ihr Psy­cho­lo­ge wür­de spä­ter sagen, dass Bin­dungs­er­fah­run­gen Mus­ter hin­ter­las­sen. Dass Men­schen unbe­wusst nach dem suchen, was sie ken­nen – auch wenn es weh tut. »Wir wie­der­ho­len, was wir nicht lösen«, sag­te er. Sie dach­te an ihn, an sei­ne Bli­cke, an die Art, wie er sie hielt, genau so fest, wie sie es immer gebraucht hat­te. Viel­leicht war das nicht nur Lie­be. Viel­leicht war es etwas, das sie längst kann­te, ohne es jemals ver­stan­den zu haben.

Manch­mal ist Lie­be ein Wort, das noch nicht aus­ge­spro­chen wur­de. Ein Herz­schlag, so lei­se, dass er kaum wahr­ge­nom­men wird. Ein Blick, der sich abwen­det, weil er noch nicht sicher ist, ob er blei­ben darf. In die­sem frü­hen Sta­di­um ist das Leben noch ein Geheim­nis, eine Ahnung, die nur in Frag­men­ten exis­tiert. Aber selbst die lei­ses­ten Ver­spre­chen for­men die Welt, noch bevor sie gehört wer­den. Der Beginn einer Liebesgeschichte.

In der fünf­ten Träch­tig­keits­wo­che wird das Unsicht­ba­re lang­sam greif­bar. Die Frucht­an­la­gen wach­sen, gewin­nen an Kon­tur, klei­ne Kör­per for­men sich. Die Orga­ne begin­nen sich zu ent­wi­ckeln, die Glied­ma­ßen wer­den erkenn­bar, die ers­ten zar­ten Bewe­gun­gen set­zen ein – auch wenn sie noch nicht spür­bar sind. Noch ist die Ver­bin­dung zwi­schen Hün­din und Wel­pen rein kör­per­lich, ein stil­les Ver­sor­gen, ein rhyth­mi­sches Geben.

Kar­ma ist ruhi­ger als sonst. Sie schläft mehr. Wenn sie nicht schläft, hat sie Hun­ger – nicht gie­rig, aber ziel­ge­rich­tet. Ihr Bauch­um­fang ist in der ver­gan­ge­nen Woche um fünf Zen­ti­me­ter ange­wach­sen. Und auch ihr Blick hat sich ver­än­dert: ein Hauch von Kon­zen­tra­ti­on, als wür­de sie inner­lich nach­zäh­len. Noch sind es Wochen bis zur Geburt. Aber etwas in ihr weiß längst, dass da Leben ist. Dass es getra­gen wer­den will – und geliebt.

What is Love?

Lie­be – ein Gefühl, das jeder kennt und doch nie­mand ganz erklä­ren kann. Ist sie Che­mie oder Schick­sal? Berech­nung oder Rät­sel? Ein Impuls oder eine Ent­schei­dung? In unse­rem Wurf­ta­ge­buch erkun­den wir die Lie­be in all ihren Facet­ten – von der ers­ten Nach­richt in einer Dating-App bis zum letz­ten Ver­spre­chen eines gemein­sa­men Lebens. Viel­leicht fin­dest du dich wie­der. Viel­leicht ent­deckst du eine neue Art, über Lie­be nach­zu­den­ken. Viel­leicht zeigt sich die Wahr­heit irgend­wo zwi­schen den Zeilen.

© Johannes Willwacher