Eine Adventsgeschichte – mit Herr und Hund: Der Winter bringt vieles. Mal Schnee, mal Klarheit. Nur fragt er vorher nie, ob man auch bereit dafür ist.
Bravery never goes out of fashion.
William Makepeace Thackeray
Über Nacht war der Winter gekommen. Ein fahler Himmel spannte sich über die Felder, erstarrt unter dem ersten Frost, und ein eisiger Wind ließ die Dächer des alten Gutshofs leise seufzen. Der Hund trat aus der warmen Küche, sprang die drei Stufen hinab, die auf den gepflasterten Hof hinunter führten, und hob die Nase.
Etwas fühlte sich anders an. Nicht falsch, aber anders. Unentschlossen trabte er über den Hof, als folgte er einer Spur, die sich allmählich verlor, bis er schließlich vor den Stallungen zum Stehen kam. Das Tor war mit einer Kette verriegelt – einer schweren, rostigen Eisenkette, die keines der Tiere hinaus, keinen ungebetenen Gast hinein lassen sollte –, so dass es nur einen Spalt offen stand. Seine Nase, dachte der Hund, würde schon hindurch passen, und wenn er sich nur genug anstrengte, könnte es ihm auch gelingen, in den Stall hinein zu schlüpfen – vorerst wollte er es aber dabei belassen, den Geruch zu prüfen. Es roch nach Schaf. Natürlich roch es nach Schaf – nach was hätte es sonst riechen sollen? Nach Rosen? Schafe rochen immer gleich, das wusste er. Aber der Geruch, der ihm dort in die Nase stieg, roch noch nach etwas anderem. Nach Misstrauen, dachte er.
»Warum riecht ihr so … beunruhigt?« fragte er argwöhnisch, nachdem er sich umständlich durch den Spalt gezwängt und an dem Gatter angelangt war, hinter dem sich die Schafe befanden. Das alte Mutterschaf hob schnaubend den Kopf und blinzelte ihn an. »Womöglich, weil du uns anstarrst, als würdest du überlegen, welche Beilage man am besten zu gestopftem Schafsmagen reichen kann.« Zustimmend blökten alle anderen. »Ich starre nicht«, erwiderte der Hund und setzte sich – beinahe entschuldigend – hin. Das half aber auch nur bedingt, denn sein Blick blieb unverwandt fragend auf die Schafe gerichtet. »Fragen ist auch eine Form des Starrens«, gab ein junges Schaf zurück, das sich für besonders klug hielt, und weil alle anderen das augenscheinlich genauso sahen, wurde auch das mit lautem Blöken bestätigt. Als hätte ein Schaf je dem anderen widersprochen, dachte der Hund, und wollte sich schon anschicken, wieder zu gehen, als der Ostwind krachend ins Gebälk fuhr. Zitternd drängten sich die Schafe noch dichter zusammen. Und er verstand.
»Der Wind macht euch Angst?« Der Hund legte den Kopf schief. »Der Wind ist doch immer da.« Die Schafe blickten ihn mit großen Augen an, dann löste sich eines zögernd aus der Herde. »Kannst du denn das Lied nicht hören, das dieser Wind singt?« flüsterte es. »Es klingt ganz anders als die Lieder, die der Sommerwind singt, und selbst der Herbstwind hat keine so fürchterliche Stimme.« Der Hund lauschte, dann schüttelte er den Kopf. »Der Wind singt nicht, der Wind heult«, sagte er. Ein zweites Schaf trat entschlossen zwischen den anderen hervor – und was es sagte, ließ die ganze Herde noch weiter in das Halbdunkel des Stalls zurückweichen: »Wolf!«
»Ihr wollt also behaupten, dass der Wind wie ein Wolf heult«, lachte der Hund. »Ein Wolf, der euch das Dach von eurer gemütlichen Behausung pustet?« Er dachte an ein Märchen, das die Herrin den Kindern einmal am Kamin vorgelesen hatte – er selbst hatte zusammengerollt zu ihren Füßen gelegen und aufmerksam gelauscht –, und lachte noch lauter. »Dann huste und pruste ich dein Häuschen um«, an diese Worte konnte er sich noch besonders gut erinnern. »Das ist doch nicht mehr, als ein Märchen!« Das alte Mutterschaf trat dichter an das Gatter heran. »Es ist ein schauriges Lied, das nur verständige Ohren hören können. Der alte Hund hat solche Ohren besessen. Er hat gewusst, das der Wind nicht nur wispern, sondern auch heulen kann. Und dass er manchmal, in dunklen Nächten, auch seine Zähne zeigt. Zähne, scharf und spitz, mit denen er zubeißt wie …«
»Wie ein Wolf«, fiel der Hund dem Schaf ins Wort. Das nicht, weil er die Angst der Schafe verstanden hätte, sondern weil er sich ertappt fühlte. Er war jetzt der Hund auf dem Hof. War es nicht seine Aufgabe, zu wissen, was los war? Aber er wusste es nicht. Und das gefiel ihm nicht. »Vielleicht … kann ich es lernen?«, versuchte er zögerlich. Ein junges Schaf hob eine Augenbraue – oder das, was bei Schafen einer Augenbraue nahekam. »Kann man so etwas lernen? Oder weiß man es einfach?«
»Als das Küchenmädchen einmal einen Zipfel Blutwurst in seinem Rock verschwinden ließ – einen, den der Herr selbst noch gerne gegessen hätte –, wusste ich das«, sagte der Hund nachdenklich. »Ich kann riechen, wenn Ärger in der Luft liegt. Vielleicht ist es so?« Das alte Mutterschaf sah ihn prüfend an. »Dann versuch’s doch mal. Was sagt dir der Wind?« Der Hund hob die Nase, schloss die Augen und schnupperte. Es roch nach Heu, nach Schafen, nach den dunklen Pfotenabdrücken, die er auf dem gefrorenen Pflaster im Hof hinterlassen hatte. Aber hinter diesen Gerüchen schien sich noch ein weiterer zu verbergen. Einer, der kälter und schwerer war. Der ihn an Schnee denken ließ, der von einem Dach rutschte, und an das Geräusch klappernder Fensterläden im Wind.
»Ein Sturm kommt«, sagte er schließlich. Die Schafe sahen ihn an. Dann nickte das alte Mutterschaf bedächtig. »Ein Hund, der versteht. Dass ich das auf meine alten Tage noch einmal erleben darf! Braver Hund! Und jetzt nimm die Nase aus dem Gatter, bevor du steckenbleibst.« Der Hund tat wie ihm geheißen. »Sonst müssen wir dich als Zaunpfahl benutzen«, ergänzte das neunmalkluge Schaf trocken. »Aber keine Sorge – wir würden dir schon einen schönen Namen geben. Vielleicht ›Pfahlbert‹. Oder ›Lattenhund‹.« Alle lachten. »Sehr witzig«, brummte der Hund und versuchte, den Stall mit Würde zu verlassen. Das gelang nur mäßig. »Alles hat sein Gutes«, rief das Schaf ihm noch hinterher. »Jemand muss ja auf uns aufpassen. Und wenn’s nur als Zaun ist.«
Zurück auf dem frostkalten Hof blieb der Hund plötzlich stehen. Seine Nase erzählte ihm von den Tannenzweigen, die mit roten Beeren geschmückt und zum Kranz gewunden an der Haustür hingen. Sie erzählte ihm von dem Wachs, das von der dicken roten Kerze auf dem Kaminsims tropfte. Und sie erzählte ihm von dem Schnee, den der Sturmwind von den Hügeln herunter ins Tal tragen würde.
»Da kommt was auf uns zu«, dachte der Hund.




© Johannes Willwacher