Eine Adventsgeschichte – mit Herr und Hund: Gerechtigkeit ist selten bequem – besonders dort, wo Versuchung schneller ist als Tugend.
Charity begins at home, and justice begins next door.
Charles Dickens
Es war eine Schande. Eine himmelschreiende Schande. Das fand wohl auch Stevens, der Butler, der mit erhobenem Zeigefinger über dem Kopf des Hundes herumfuchtelte, und dessen Wangen dabei genauso rot leuchteten, wie die Kugeln an dem Baum, den man tags zuvor in der großen Halle aufgestellt hatte. Der Hund verstand zwar nicht alles, was zwischen dem Bediensteten und der Dame des Hauses gesprochen wurde, aber das Wesentliche war ihm klar: während auf dem Kaminsims das zweite Licht brannte und von Ankunft und Umkehr sprach, war hier das jüngste Gericht ausgerufen worden – mit ihm als einzigem Angeklagten. Allein, welche Missetat er begangen haben sollte, erschloss sich ihm erst, als Stevens eines seiner Ohren packte und ihn mit der unnachgiebigen Entschlossenheit eines im Krieg verwundeten Soldaten hinter sich her zog. Eine Tür flog auf und alsbald die zweite, dann rumpelten sie die steile Treppe hinab, die von der Küche zum Eiskeller abzweigte.
»Nun schau dir an, was du angerichtet hast, du dummer Hund!« Stevens ließ ihn los und stattdessen wieder den Zeigefinger kreisen. Mit gesenktem Kopf sah der Hund sich um. Ein heilloses Durcheinander fand sich auf den Fliesen – zerbrochenes Glas, ein Sack Mehl, der umgeworfen worden war, und womöglich ein gutes dutzend Würste, die nur halb aufgegessen in einer dunklen Bierlache schwammen. »Den saftigen Braten, den die Herrschaften zum Sonntagsdinner zu reichen gedachten, hast du dir selbstverständlich auch einverleibt!« Er hatte was? Er war ein Hund von Anstand! Von Prinzipien! Von – oh, war das ein Stück Schinken, dort vor ihm auf dem Boden? Nein, nein. Und nochmals nein. Ihn traf keine Schuld. Und das würde er auch beweisen!
Er hatte keine Zeit zu verlieren. Während Stevens oben in der Küche lamentierte (»Madam, das Vieh gehört vor die Tür gesetzt! Ein Hund ohne Benimm ist wie ein Butler, der nicht weiß, wann er sich zurückzuziehen hat!«), nahm der Hund Witterung auf. Etwas Scharfes kitzelte ihn in der Nase – der unverschämte Geruch eines Wesens, das sich nicht um gesellschaftliche Normen scherte. Er folgte der Spur, immer darauf bedacht, nichts umzustoßen und noch mehr Unheil anzurichten. Schließlich kam er vor einer Holzkiste zum Stehen, die im Schatten von zwei hohen Regalen vor der Wand stand. Darin: ein dumpfes Schaben. Ein Wispern. Dann – zwei Augen in der Dunkelheit.
»Oh«, sagte der Waschbär, »erwischt!« Der Hund knurrte. »Was hast du getan?« Der Waschbär zuckte die Schultern. »Ich habe getan, was jedes Tier tun würde, wenn ein Kellerfenster so einladend offen steht. Ich habe mich bedient.« Angespannt umrundete der Hund die Kiste und baute sich mit hoch erhobener Rute vor dem Waschbären auf. »Das ist Diebstahl«, ließ er denselben grollend wissen. Der lachte nur. »Grundgütiger, nein. Das ist Talent!« Der Hund fletschte die Zähne. »Warte nur, bis ich dich zu fassen bekomme«, gab er geifernd zurück. »Ach, wirklich? Und wie? Ich bin klein. Ich bin flink. Und ich bin …« Der Waschbär sprang auf die Kiste. »… schon fast weg.«
Er machte einen Satz. Der Hund sprang hinterher. Die Kiste kippte und die Kartoffeln, die sich darin befunden hatten, kullerten über den Kellerboden – unter die Regale mit Konserven, die Regale mit Kompott und schließlich gegen eine Flasche Kuvée, die krachend in tausend Scherben zerbarst. Stille. Dann: Hastige Schritte auf der Treppe. Licht flutete den Raum. Stevens dampfte wie eine livrierte Lokomotive herein und schnappte den Waschbären am Kragen. »Hab ich dich, du dreistes Ungeheuer!« Es folgte ein Gerangel, ein empörtes Fauchen – bis der wild um sich beißende Waschbär endlich in einem schmalen Rattenkäfig saß. Stevens klopfte sich den Staub von der schwarzen Jacke und warf dem Hund einen knappen Blick zu. »Na schön«, brummte er. »Vielleicht warst du’s doch nicht.«
Der Hund setzte sich aufrecht vor den Gefangenen. Ein Gefühl stolzer Genugtuung durchströmte ihn – doch es hielt nicht lange an. Der Waschbär, nun hinter Gittern, leckte sich den Pelz und sah ihn mit listigen Augen an. »Na, zufrieden?« fragte er gedehnt. Der Hund zuckte mit den Ohren. »Gerechtigkeit muss sein.« Der Waschbär grinste schief. »Hör zu, Hund. Die Welt gehört denen, die nehmen, was sie brauchen. Warum sollten die, die nichts haben, sich nach den Regeln derer richten, die alles besitzen? Besitz ist eine Lüge. Eine Erfindung, um die Starken noch stärker zu machen. Um die Schwachen in Schach zu halten. Ich nehme mir, was mir gehört, weil ich es brauche. Und du? Du bewachst, was anderen gehört, weil sie dir gesagt haben, dass es richtig ist.« Der Hund gähnte.
»Wer bestimmt denn, was Diebstahl ist?«, fuhr der Waschbär fort. »Diejenigen, die alles haben! Wer entscheidet, wer ein braver und wer ein böser Hund ist? Diejenigen, die am Kamin sitzen! Die da oben sprechen von ›Ordnung‹, von ›Regeln‹ – pah! Weißt du, was Ordnung wirklich ist? Die bequeme Art der Besitzenden, ihre Pfründe zu sichern! Und was sind Regeln? Ein Netz aus Fäden, gesponnen von jenen, die zu träge sind, selbst in eine Vorratskammer einzubrechen! Sie sagen: ›Ein guter Hund bleibt sitzen!‹ – und du bleibst sitzen! Sie sagen: ›Ein guter Hund bellt nur, wenn es nötig ist!‹ – und auch dem widersprichst du nicht!« Der Hund blinzelte. Er hörte noch etwas von »solidarischer Wurstverstaatlichung« und »der revolutionären Kraft des Kerichtkübels« – dann fielen ihm die Augen zu. Der Waschbär sprach weiter. Und sprach. Und sprach.
Als der Hund am nächsten Morgen erwachte, war der Drahtkäfig leer.




© Johannes Willwacher