Eine Adventsgeschichte – mit Herr und Hund: Wenn der Sturm tobt, glaubt man plötzlich alles – sogar das, was die eigene Familie erzählt.

One can’t belie­ve impos­si­ble things.
Lewis Car­roll

Zehn Tage vor dem gro­ßen Fest brach schließ­lich der Schnee­sturm her­ein, den jeder schon befürch­tet hat­te. Unbarm­her­zig, wie eine wüten­de alte Tan­te, die uner­war­tet zum Tee erschien, jaul­te der Wind über die Gie­bel des alten Guts­hofs, rüt­tel­te an den Fens­ter­lä­den und blies dem löwen­köp­fi­gen Tür­klop­fer so kräf­tig ins Gesicht, dass die­ser sei­nen Dienst nur zu ger­ne quit­tiert hät­te. Die Welt ver­sank in Weiß – nie­mand kam her­aus, nie­mand kam hin­ein –, und weil nichts ande­res zu tun blieb, als abzu­war­ten – Lord Bramble­ton hat­te das der Die­ner­schaft gegen­über mit dem gewohn­ten Stoi­zis­mus bemerkt –, rück­te man vor dem knis­tern­den Kamin­feu­er dich­ter zusammen.

Eben jenes ließ im gro­ßen Salon zucken­de Schat­ten über die Wän­de tan­zen. Lord Bramble­ton, des­sen Name von der Die­ner­schaft meist auf ein höf­li­ches »M’Lord« ver­kürzt wur­de, hat­te beschlos­sen, dass dies ein vor­treff­li­cher Abend sei, um ein­an­der Gru­sel­ge­schich­ten zu erzäh­len. Eine merk­wür­di­ge Idee, wenn man bedenkt, dass der Herr des Hau­ses eher für sein Wort­karg­heit bekannt war, als für sein erzäh­le­ri­sches Talent. Wenn er sprach, dann meis­tens zu den Hun­den, wes­halb es kaum ver­wun­der­lich scheint, dass sich auch jene auf dem präch­ti­gen Per­ser­tep­pich vor dem Kamin wiederfanden.

»Wer wagt es, den Anfang zu machen?«, frag­te Lord Bramble­ton, und sei­ne Stim­me klang fast spöt­tisch dabei. Mrs. Pind­le, die Haus­häl­te­rin, die über Jahr­zehn­te die Geschi­cke des Hau­ses gelenkt hat­te, räus­per­te sich und ließ die Hand mit einem Schnipp­sen nach oben schnel­len. »Ich erin­ne­re mich an eine Geschich­te«, sag­te sie, um sich von ihrem Stuhl zu erhe­ben und die wei­ße Schür­ze sorg­sam glatt zu strei­chen. »Es ist eine Geschich­te, die sich nicht weit von hier zuge­tra­gen haben soll, in einem Dorf jen­seits der Moo­re, sag­te man mir. Der Dienst­bo­te des jüngst ver­bli­che­nen Lord Fea­ther­stoneh­augh berich­te­te mir auf dem Wochen­markt von Shi­ver­ford davon …« Ein spit­zer Schrei schnitt ihr das Wort ab. »Augus­tus, tot?« Lady Bramble­ton starr­te fas­sungs­los in die Run­de. »Ja, mau­se­tot«, ent­geg­ne­te die Haus­häl­te­rin so fröh­lich, dass es selbst den umlie­gen­den Hun­den unpas­send erschien. »Was«, Lady Bramble­ton rang noch immer nach Atem, »was ist dem Ärms­ten denn zuge­sto­ßen?« Mrs. Pind­le nahm eine Tee­tas­se von dem sil­ber­nen Tablett, trank einen Schluck, dann wand­te sie sich der Lady zu. »Oh, es war ein ent­setz­li­cher Sturm, wis­sen Sie. Dem heu­ti­gen nicht ganz unähn­lich, wenn Sie mich fra­gen. Und der Wind, er soll fast die Dächer abge­ris­sen haben. Aber der Lord, ach, der arme Lord …« Wie­der brach die Erzäh­lung ab, so dass die erwar­tungs­vol­le Stil­le bei­na­he das knis­tern­de Kamin­feu­er über­tön­te. »Nun, das war, was ich erfah­ren habe«, sag­te Mrs. Pind­le schließ­lich, ließ sich auf ihren Stuhl sin­ken und lächel­te zufrie­den. Es bestand kein Zwei­fel, dass sie in die­ser Geschich­te nicht mehr wei­ter­re­den wür­de. 

Der Hund, der die gan­ze Zeit über gelang­weilt zu den Füßen sei­nes Herrn gele­gen hat­te, hob den Kopf und gähn­te. Seit­dem der gefrä­ßi­ge Wasch­bär aus sei­nem Gefäng­nis ent­kom­men war, hat­te er sich selbst zwar des­öf­te­ren gefragt, ob es sich bei die­sem um einen Geist gehan­delt haben könn­te, im Grun­de hat­te er aber herz­lich wenig für Geis­ter­ge­schich­ten übrig. Das hat­te für den Wolfs­wind gegol­ten, der die Scha­fe in Angst und Schre­cken ver­setzt hat­te, und das galt auch für alle ande­ren Geschich­ten, denen er an die­sem Abend mit hal­bem Ohr lausch­te. 

Da war das Irr­licht von Ste­vens – eine im fünf­he­bi­gen Jam­bus vor­ge­tra­ge­ne Minia­tur, die sich den Ver­feh­lun­gen der Jugend wid­me­te, und nicht von unge­fähr genau­so mora­lin­sauer schien, wie der getreue But­ler selbst. Da waren die Rie­sen, von denen Els­beth und Edmund, die bei­den ältes­ten Kin­der, im Wech­sel erzähl­ten, wobei sie ein­an­der fort­wäh­rend unter­bra­chen und beschul­dig­ten, ganz falsch zu erzäh­len, so dass die Geschich­te ihr Ende nicht in einem eben­sol­chen, son­dern in wüs­ten Beschimp­fun­gen fand. Und schließ­lich das schreck­li­che Schnupf­tuch, von dem Lady Bramble­ton sprach, das nie­man­den, außer der Lady­schaft selbst erschreckte.

»Schla­fen! Viel­leicht auch träu­men!«, dach­te der Hund bei sich, und hat­te sich bei­na­he auch schon aus sei­ner irdi­schen Ver­stri­ckung gelöst, als der Lord sich mit einem bedeu­tungs­vol­len Räus­pern erhob. Er tat es mit Bedacht, als müs­se er erst die Last abstrei­fen, die auf den gram­ge­plag­ten Schul­tern aller tra­gi­schen Mon­ar­chen der Geschich­te ruh­te, stütz­te eine Hand am Kamin­sims ab und leg­te die ande­re an die Brust. »Nun denn«, sag­te er mit einer Stim­me, die vor Gra­bes­ernst nur so troff, »wenn kei­ner von euch es wagt, dann will ich wohl« – er hielt inne, seufz­te tief, als näh­me er Maß an der Unend­lich­keit – »das Schick­sal auf mich neh­men, die Wahr­heit über den schwar­zen Hund zu ver­kün­den.« Eine thea­tra­li­sche Pau­se, aber nie­mand applau­dier­te ihm. »Eben jenen, den man Barg­hest nennt.« Auch dar­auf folg­te kein Don­ner­schlag, kein unheil­schwan­ge­res Dröh­nen. »Der Barg­hest, mei­ne Lie­ben, ist nicht bloß ein Hund. Oh, nein! Er ist der Schre­cken der Nacht, das Grau­en in den Gas­sen, der Grund, war­um so man­cher Moto­rist lie­ber immer einen Umweg von zwan­zig Mei­len auf sich nimmt, als die Stra­ßen ent­lang der Moo­re zu befah­ren. Sei­ne Augen leuch­ten wie die Höl­len­feu­er selbst und sein Heu­len lässt Milch sau­er wer­den.« Er mach­te eine Pau­se, als lau­sche er auf das lei­se Beben in der Luft. »Ein­mal, so erzählt man sich, sprang er einem Post­bo­ten vor die Füße. Die Brie­fe wur­den nie zuge­stellt, und der Brief­trä­ger … nun, er soll fort­an nur noch auf Fran­zö­sisch geflucht haben, und das, obwohl er nie in sei­nem Leben aus York­shire her­aus­ge­kom­men ist.«

»Wenn ich es mir gestat­ten darf, das zu kom­men­tie­ren, M’Lord …« Der But­ler trat mit gesenk­tem Blick auf den Haus­herrn zu, ließ die Hacken knal­len und fal­te­te die Hän­de hin­ter dem Rücken. »Die alten Schrif­ten – und mit Ver­laub, auch mei­ne Groß­tan­te Euge­nia – möch­ten dem wider­spre­chen. Tat­säch­lich sind bei einer Begeg­nung mit dem Barg­hest nur zwei Mög­lich­kei­ten ange­zeigt. Ers­tens: Flucht. Sie ist ver­ständ­lich, wenn­gleich voll­kom­men nutz­los, da sie zwangs­läu­fig mit dem eige­nen Able­ben endet. Zwei­tens: Ein auf­rich­ti­ges Lob für die außer­ge­wöhn­li­che Fell­pracht der Bes­tie. Dies, so sagt man, soll ihren Grimm besänf­ti­gen. Gesi­cher­te Bele­ge feh­len, weil … nun­ja, auch das noch nie­mand über­lebt hat.«

Ein unbe­hag­li­ches Schwei­gen leg­te sich über den Raum. Dann folg­te – mit dem größt­mög­li­chen Getö­se, das man sich vor­stel­len kann – der längst über­fäl­li­ge Don­ner­schlag. Dass der­sel­be von dem löwen­köp­fi­gen Tür­klop­fer her­rühr­te, mach­te das Gan­ze nicht weni­ger befremd­lich. »Das ist … aus­ge­spro­chen unge­wöhn­lich«, ließ Lord Bramble­ton die ver­schreck­te Gemein­schaft mit beben­der Stim­me wis­sen. Es klopf­te erneut, dröhn­te durch die gro­ße Hal­le. Die Hun­de knurr­ten. Der Haus­herr streck­te sich, ergriff eine der drei bren­nen­den Ker­zen vom Kamin und schritt zur Tür. 

Als sich alle in der gro­ßen Hal­le ver­sam­melt hat­ten – auch die Köchin und die bei­den Dienst­mäd­chen hat­te das lau­te Pol­tern aus ihren Bet­ten geholt –, ertön­te der Tür­klop­fer ein drit­tes Mal. Lord Bramble­ton stand bereits mit einer Hand an der schwe­ren Tür, die fla­ckern­de rote Ker­ze in der ande­ren – alles hielt gespannt den Atem an. Dann, mit einem Rück, öff­ne­te der Lord die Tür. Drau­ßen tob­te der Sturm. Schnee peitsch­te ins Haus. Doch da war noch etwas ande­res – ein dunk­ler Schat­ten inmit­ten des wir­beln­den Weiß. Etwas Gro­ßes. Etwas, das sich beweg­te. Die Lady schrie. Das, was schwer­fäl­lig über die Schwel­le trat, war aber kein gro­ßer schwar­zer Hund.

Es war der jüngst ver­bli­che­ne Lord Featherstonehaugh.

© Johannes Willwacher