Eine Adventsgeschichte – mit Herr und Hund: Nicht jeder Verlust ist tragisch – manches stand uns schlicht nie besonders gut.

If a way to the bet­ter the­re be,
it exacts a full look at the worst.
Tho­mas Hardy

Am dar­auf­fol­gen­den Sonn­tag hat­te sich der Sturm gelegt. Die Welt lag in eisi­ger Stil­le, nur gele­gent­lich brach ein Ast unter der Last des Schnees oder ein Eis­zap­fen lös­te sich mit lei­sem Kna­cken von den Dach­rin­nen. Das Gut war voll­kom­men ein­ge­schneit, aber das stör­te nie­man­den. Nie­man­den, bis auf Lord Featherstonehaugh.

Der älte­re Herr saß, in meh­re­re Decken gehüllt, in einem der gro­ßen Ses­sel am Kamin. Sei­ne Klei­dung war zer­knit­tert, sein Gesicht war es auch, und sei­ne Lau­ne – so schien es – noch schlech­ter als sonst. »Das ist ja uner­hört!«, schimpf­te er und schlug mit sei­ner Pfei­fe auf die Ses­sel­leh­ne. »Es ist wirk­lich sehr unver­nünf­tig, zu ver­lan­gen, dass ein Mann über ande­re soviel bes­ser den­ken soll­te, als er über sich selbst zu den­ken imstan­de ist!« Lady Bramble­ton, die bis dahin bemüht gewe­sen war, gute Mie­ne zum bösen Spiel zu machen, biss sich auf die Lip­pen. »Ach, Augus­tus«, sag­te sie und reich­te dem Gast das gefor­der­te Kis­sen, »ein ein­fa­ches Dan­ke­schön hät­te doch völ­lig gereicht.« Fea­ther­stoneh­augh blies eine Rauch­wol­ke in die Luft und brumm­te unwil­lig. »Ja, ja. Miss­li­che Lage, das. Aber das min­dert nicht mei­ne Unzufriedenheit.«

Wie sich her­aus­ge­stellt hat­te, war der gute Augus­tus kei­nes­wegs ver­stor­ben, obwohl das Dach sei­nes Her­ren­hau­ses wort­wört­lich über sei­nem Kopf zusam­men­ge­bro­chen war. Der Sturm hat­te jen­seits des Moo­res noch wüten­der gewü­tet, und in den frü­hen Mor­gen­stun­den hat­te eine Schnee­last schließ­lich das alte Gebälk nach­ge­ge­ben las­sen. Wäh­rend ein Groß­teil der Die­ner­schaft auf wun­der­sa­me Wei­se ent­kom­men war, hat­te Fea­ther­stoneh­augh zunächst zwei Tage unter den Trüm­mern sei­nes Schlaf­zim­mers fest­ge­steckt. Sein Fah­rer, ein jun­ger Mann mit bemer­kens­wert wenig Respekt für sei­nen Arbeit­ge­ber, hat­te ihn aus­ge­gra­ben, ihm eine Decke um die Schul­tern gelegt und sich von ihm anhö­ren müs­sen, dass dies ein aus­ge­spro­chen erbärm­li­ches Schau­spiel sei. Danach hat­ten sie sich auf den Weg zum Hof­gut der Bramble­tons gemacht – schließ­lich, so befand der Lord, muss­te man ihm als altem Freund der Fami­lie doch Unter­schlupf gewäh­ren. 

Der Wagen – ein schlamm­grü­ner Sil­ver Ghost, der gleich sei­nem Besit­zer schon bes­se­re Tage gese­hen hat­te – war auf der Zufahrt aller­dings in einer Schnee­we­he ste­cken­ge­blie­ben, und weil der grei­se Lord dar­auf ver­traut hat­te, dass das irr­sin­ni­ge Schnee­trei­ben irgend­wann schon auf­hö­ren moch­te, hat­te er sich über Stun­den damit begnügt, zeternd auf der Rück­bank zu sit­zen. Als die Käl­te sich schließ­lich mit bei­ßen­der Schär­fe durch die Tür­spal­ten zwäng­te, hat­te er – wenn auch wider­wil­lig – ein­se­hen müs­sen, dass die­se ver­fluch­te Win­ter­nacht ihn zum Äußers­ten zwang: den Wagen zurück­zu­las­sen und zu Fuß wei­ter zu gehen. Er hat­te jedoch dar­auf bestan­den, dass ihn sein Fah­rer bis zur Tür trug, da ihm sonst die Stie­fel vol­ler Schnee gelau­fen wären – was die zap­peln­de Gestalt erklä­ren moch­te, die sich vor den ent­setz­ten Augen aller aus der Dun­kel­heit geschält hatte.

Nun saß er also hier, nipp­te miss­mu­tig an einem Glas Bran­dy und ver­schüt­te­te einen groß­zü­gi­gen Schluck auf den Hund, der unter ihm auf dem Per­ser­tep­pich lag. Fea­ther­stoneh­augh starr­te das Tier an. »Einem blö­den Men­schen nützt es über­haupts nichts, ihm dau­ernd zu sagen, dass er blöd ist. Weil er näm­lich viel zu blöd dazu ist, das zu begrei­fen!« Er leer­te das Glas mit einem Schluck und schenk­te sich ein wei­te­res ein. »Wie der Herr«, wie­der reg­ne­te es Bran­dy auf den Hund her­ab, »so der Hund!« Der­sel­be zuck­te nicht mit der Wim­per. Er wuss­te instink­tiv, mit wem er es hier zu tun hat­te: einem Mann, der sich für nichts und nie­man­den inter­es­sier­te – außer für sich selbst.

Wäh­rend Lord und Lady Bramble­ton sich vor­nehm zurück­hiel­ten, häuf­ten sich bei der Die­ner­schaft die Beschwer­den. Mrs. Pind­le ertapp­te ihn mehr­fach dabei, wie er bei weit offe­ner Tür rau­chend in der gro­ßen Hal­le stand und die kal­te Asche aus sei­ner Pfei­fe auf dem Tep­pich aus­klopf­te. Die Köchin hat­te sich bereits zum wie­der­hol­ten Male dar­über beklagt, dass er gruß­los die Küche betrat, den Kopf in alle Töp­fe steck­te und auch nicht davor zurück­schrak, sich mit sei­nen schmie­ri­gen Fin­gern aus den­sel­ben zu bedie­nen. Und Ste­vens? Selbst der But­ler, der sich sonst nur erlaub­te, über den Hund zu schimp­fen, ließ kein gutes Wort an ihm. »Einen Mann, M’Lord, soll man nach sei­nen Fein­den, nicht nach sei­nen Freun­den beur­tei­len.« Dass die­ser es wie kein Zwei­ter ver­stand, sich jeden Freund zum Feind zu machen, soll­te aber auch der Haus­herr im Lau­fe der Woche noch erkennen.

Es war bei einem Zei­tungs­ar­ti­kel über die schot­ti­sche Pro­hi­bi­ti­on, dass der Streit sei­nen Lauf nahm. Lord Bramble­ton, der stets auf Mäßi­gung bedacht war, äußer­te sich wohl­wol­lend über die Idee, die Her­stel­lung und den Ver­kauf von Alko­hol zu ver­bie­ten und bedau­er­te, dass die Abstim­mung geschei­tert war. Fea­ther­stoneh­augh hin­ge­gen nahm dies als per­sön­li­chen Affront. »Mäßi­gung?«, höhn­te er. »Was für ein abscheu­li­ches Wort! Eine Nati­on, die den Whis­ky abschaf­fen will, ver­dient kei­nen Respekt!« Bramble­ton erwi­der­te kühl, dass Trun­ken­heit nichts sei, wor­auf man stolz sein müs­se – wor­auf­hin Augus­tus mit grim­mi­ger Ent­schlos­sen­heit nach­schenk­te. »Trin­ken wir dar­auf, dass Eng­land nie­mals so töricht sein wird!«, rief er und setz­te sein Glas an.

Als der Abend fort­schritt und die Karaf­fe Bran­dy ste­tig lee­rer wur­de, ver­lor Fea­ther­stoneh­augh end­gül­tig die Kon­trol­le über sei­ne ohne­hin schon wan­ken­de Hal­tung. Ein fal­scher Schritt – viel­leicht war es auch der Hund, der nicht ganz zufäl­lig in sei­nem Weg gele­gen haben moch­te – ließ ihn ins Strau­cheln gera­ten, und mit einem pol­tern­den Geräusch fiel er, Arme rudernd, in den präch­ti­gen, fest­lich geschmück­ten Baum. Die Kugeln klirr­ten, eine Gir­lan­de ver­fing sich um sei­nen Hals, und mit lau­tem Getö­se gin­gen der Baum und der Trun­ken­bold zu Boden.

Am nächs­ten Mor­gen, nach­dem Fea­ther­stoneh­augh sein Kater­früh­stück hin­ter sich gebracht hat­te – die Schei­be Toast hat­te er so lan­ge miss­bil­li­gend auf dem Tel­ler hin und her gescho­ben, bis sie so hart war, dass er sie als Brief­be­schwe­rer hät­te ver­schen­ken kön­nen –, beschloss er, sich in der gro­ßen Hal­le sei­ne Pfei­fe zu stop­fen. Es war ein ver­trau­ter Vor­gang: er zog sei­ne Tabak­do­se her­vor, ließ sich schwer­fäl­lig in einen der Ohren­ses­sel sin­ken, klemm­te das Mund­stück zwi­schen die Zäh­ne und begann, mit dem Dau­men die Krü­mel in den Pfei­fen­kopf zu stop­fen. Er hat­te gera­de ein Streich­holz ange­facht, als sich eine dunk­le Gestalt über ihn beug­te. »Lord Fea­ther­stoneh­augh!«, fuhr Mrs. Pind­le ihn an. »Ich habe den Tep­pich ges­tern erst rei­ni­gen las­sen, und ich wer­de es nicht dul­den, dass Sie ihn schon wie­der mit Asche besu­deln!« Fea­ther­stoneh­augh, der sich grund­sätz­lich nicht gern vor­schrei­ben ließ, was er zu tun und zu las­sen hat­te, ver­zog das Gesicht. »Wir leben, wie wir ster­ben«, brumm­te er und erhob sich wider­wil­lig, »allein!«

Er raff­te den gelie­he­nen Mor­gen­man­tel zusam­men, stie­fel­te zur Tür, riss sie auf und trat hin­aus in die mor­gend­li­che Käl­te. Die Tür, die genau auf die­sen Augen­blick gewar­tet zu haben schien, fiel hin­ter ihm ins Schloss. »Ach«, schimpf­te er und zog an dem pur­pur­ro­ten Man­tel – doch etwas hielt ihn zurück. Er zog fes­ter. Nichts. Es dau­er­te einen Moment, bis er begriff: der Saum sei­nes Mor­gen­man­tels hat­te sich in der schwe­ren Eichen­holz­tür ver­klemmt. Er seufz­te, rüt­tel­te an der Klin­ke. Die Tür blieb ver­schlos­sen. Er klopf­te. War­te­te. Klopf­te erneut. Nichts. Was also tun? Mit einem letz­ten Blick auf die ver­schlos­se­ne Tür zog er die Arme aus den Ärmeln des Mor­gen­man­tels und streif­te ihn zusam­men mit sei­nem aris­to­kra­ti­schen Stolz ab. Dann mach­te er sich auf den Weg – bar­fuß, nur in Unter­wä­sche beklei­det – durch den knir­schen­den Schnee zum Küchenfenster.

Die Köchin wand­te sich drin­nen gera­de zu dem­sel­ben um, als Fea­ther­stoneh­augh gegen die Schei­be klopf­te. Sie blick­te auf. Sah ihn. Riss die Augen auf. Und schrie, als hät­te sie den Leib­haf­ti­gen höchst­selbst vor sich ste­hen. »Him­mel­herr­gott, was brül­len Sie denn so, sie dum­mes Schaf!«, rief er, doch die Frau hat­te bereits die Flucht ergrif­fen. Has­tig wand­te er sich um und stapf­te zurück, von wo er gekom­men war. Kaum hat­te er jedoch den Hof über­quert, tauch­te vor ihm eine neue Gestalt auf: der Hund.

Fea­ther­stoneh­augh blieb ste­hen. Der Hund blieb ste­hen. Ihre Bli­cke tra­fen sich. Dann begann der Hund freu­dig zu wedeln. Und: zu bel­len. Laut. Sehr laut. Eini­ge Sekun­den lang geschah nichts. Dann öff­ne­ten sich im obe­ren Stock­werk des Hau­ses nach und nach die Fens­ter. »Mein Gott!«, rief jemand. »Was treibt er denn da drau­ßen?«, ein ande­rer. »Er ist ja fast nackt!« Fea­ther­stoneh­augh stand reg­los im Schnee. Er betrach­te­te die stau­nen­den Gesich­ter, die sich über ihm aus den Fens­tern lehn­ten, seufz­te, dann wand­te er sich dem Hund zu, der ihn treu­her­zig ansah. »Weißt du was, Köter?« Er sog laut Luft durch die zusam­men­ge­bis­se­nen Zäh­ne. »Viel­leicht ist das hier doch nicht das schlimms­te Weih­nach­ten mei­nes Lebens.«

© Johannes Willwacher