Eine Weihnachtsgeschichte – mit Herr und Hund: Dankbarkeit gelingt leichter, wenn man sie nicht auf nüchternen Magen übt.
The smallest act of kindness is worth more
than the grandest intention.
Oscar Wilde
»Ein weiteres Stück Pudding?«, fragte Lord Brambleton mit jener Unschuldsmiene, die nur ein Mann aufsetzen konnte, der sich selbst bereits den vierten Nachschlag genehmigt hatte. »Nicht, wenn Sie mich morgen noch lebend wiedersehen wollen, M’lord«, erwiderte Mrs. Pindle und legte das Dessertbesteck beiseite.
Die Stimmung an diesem Weihnachtsabend war heiter. Die Teller waren leer, die Gläser gut gefüllt, und selbst Mr. Stevens, der Butler, hatte sich nach sechs Gläsern Portwein beinahe dazu hinreißen lassen, das steife Korsett des Kadavergehorsams abzustreifen.
Dass die Dienstboten sich unter die Herrschaften mischten, entsprach zwar keineswegs den Gepflogenheiten – gewöhnlich taten die Bediensteten ihre Pflicht, räumten ab, und stießen erst beim Abwasch in der Küche mit all dem an, was vom Tage übrig geblieben war –, entsprach aber durchaus Lord Brambletons Gemüt. In einer Stimmung milder Großzügigkeit hatte derselbe darauf bestanden, dass man diesmal gemeinsam tafelte. Jetzt saßen sie also hier, adelig und nicht-adelig, Herrschaft und Dienerschaft, gemeinsam vereint in der unausweichlichen Erkenntnis, dass auch der angenehmste Weihnachtsabend irgendwann von der bedrohlichen Gestalt des Puddings überschattet wurde. Und Lord Brambleton? Der hatte nach dem Dinner nicht nur seinen Herrenbinder gelöst, sondern auch das Hemd so weit geöffnet, dass es empfindsamere Gemüter hätten anstößig finden können: ganze zwei Knöpfe!
Ein Glöckchen ertönte und Lady Brambleton erhob sich mit feierlicher Miene. »Nun, ich stehe hier, wie es sich für diese Jahreszeit gehört, und finde mich in der merkwürdigen Situation, Dankbarkeit zu äußern. Dankbarkeit! In dieser trüben und undurchsichtigen Welt, in der selbst das Licht ein trübes, melancholisches Graublau zu sein scheint, ist es doch – irgendwie – möglich, dankbar zu sein. Denn schauen Sie, was habe ich? Ein Glas Punsch, das immerhin eine Spur von Wärme verspricht, aber nicht wirklich hält, wenn man es zu lange im Raum stehen lässt. Aber genau diese Wärme … diese wärmende Dankbarkeit meine ich. Ich bin dankbar für meine Gedanken, die mich ohne Unterlass heimsuchen, die sich in meinem Kopf drehen, wie Töpfe auf einem Herd, der immer brennen muss. Und natürlich die Familie. Die Familie, die – wer könnte es anders erwarten? – immer da ist, um mich zu erinnern, dass immer jemand da ist. Ich danke auch den Kerzen. Sie flackern, sie flimmern und lehnen sich so rührend gegen das Dunkel auf, dass mir ganz warm ums Herz wird. Und so, liebe Anwesenden, bin ich dankbar für all diese – durchaus albernen – kleinen Dinge, die uns in diesem Leben einander näherbringen.«
»Und für ihre eigenen Reden«, scherzte eines der Kinder, und auch die anderen beiden ließen sich zu einem Kichern verführen. »Da wäre selbst der Pudding eifersüchtig geworden«, entfuhr es Lord Featherstonehaugh, »meine Ohren fühlen sich wie in Sirup gebadet!« Lady Brambleton nickte gerührt, noch immer von der eigenen Wortgewaltigkeit überwältigt, und bedeutete Mrs. Pindle, dass sie fortfahren möge.
Die alte Haushälterin räusperte sich, setzte an, um etwas zu sagen, verstummte wieder und begann dann, wie so oft, vollkommen zusammenhanglos: »Nun, man könnte meinen, dass Dankbarkeit einfach nur … also, dass man sagt: ›Danke!‹ Aber es ist mehr als das. Es ist, als ob man … also, wie soll ich sagen? Es ist, als ob man die kleinen Dinge im Leben … nein, die großen Dinge … oder vielleicht die mittelgroßen Dinge … also, dass man diese Dinge schätzt. Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Kuchen. Einen mit Buttercreme und Marmelade, vielleicht, den die Königin so gerne gemocht haben soll. Ein Kuchen, jedenfalls. Und Sie essen ein Stück. Nun könnten Sie sich beschweren, dass es nur ein Stück ist. Aber wenn Sie dankbar sind, dann … also, dann schmeckt dieses eine Stück wie … wie zehn Stücke! Oder vielleicht neun. Jedenfalls ist mir eine große Ehre, Ihnen meinen tiefsten Dank auszusprechen. Denn, wie Sie wissen, hatte ich nicht immer das Vergnügen, zwischen Silberbesteck und … äh … Perserteppichen mein Dasein zu fristen. Sie, meine verehrten Lordschaften – nein, Hochwohlgeborenen – nein, Hochwohl … nun, Sie eben! –, haben mich aufgenommen, als alles verloren schien. Als ich vor zwanzig Jahren nur mit einem Koffer aus Glasgow kam. Und das ist ja nun wirklich … also … das ist ja wohl das Mindeste. Nein! Ich meine, es ist mehr als das Mindeste! Es ist das Höchste! Und das … das bedeutet mir alles.«
Die Stille, die folgte, war so tief, dass selbst Lord Featherstonehaugh für einen Moment aufhörte zu kauen. Überall hörte man es schlucken – Tränen, den Kloß im Hals, Brandy. Mrs. Pindle schnäuzte sich geräuschvoll und sah erschrocken auf ihren Teller, als wäre ihr eigenes Geständnis eine Überraschung gewesen.
Stevens, der Butler, räusperte sich und rückte seinen Kragen zurecht. Jeder ahnte, dass er versuchen würde, die Geschichte von Mrs. Pindle zu übertreffen. »Nun, das ist ja herzzerreißend. Aber wenn wir schon von Dankbarkeit sprechen … ich bin dankbar, heute hier stehen zu dürfen. Ich erinnere mich noch an die ersten Tage des Großen Krieges, damals, im August 1914. Wir lagen in einer Senke, als plötzlich die ersten Salven der deutschen Artillerie über unsere Köpfe pfiffen. Wir wussten, dass wir keine Chance hatten, die Stellungen zu halten. Major Cartwright, ein Mann mit Schnurrbart so gewaltig wie sein Pflichtbewusstsein, brüllte: ›Halten Sie die Linie!‹ Und dann kamen sie. Mit aufgesetzten Bajonetten, als wollten sie uns aus dem Boden graben wie verdammte Rüben …«
»Stevens!«, unterbrach ihn Lady Brambleton hastig und wies die Kinder an, sich die Ohren zuzuhalten. Lord Brambleton räusperte sich: »Vielleicht eine etwas … weniger bildhafte Schilderung, Kamerad?« Stevens nickte. »Selbstverständlich, M’Lord. Also, wir feuerten. Reihenweise fielen sie, aber für jeden, der stürzte, kamen zwei nach. Dann – eine Granate! Direkt in unsere Deckung. Der Druck riss mir den Helm vom Kopf, und als ich mich aufrappelte, sah ich, dass der halbe Graben nicht mehr existierte. Der Sergeant neben mir – nur noch ein Schuh war übrig, und das Blut …«
»Stevens!« Der Butler entschuldigte sich zerknirscht, gab an, dass die Pferde wohl mit ihm durchgegangen wären, und er in jedem Fall dankbar sei, nicht unter einem gottverlassenen Acker in Frankreich zu liegen. Darauf wurde es gefährlich still – und alle Augen wanderten zu Lord Featherstonehaugh, der seelenruhig an seinem Brandy nippte.
»Tja«, sagte er schließlich und stellte das Glas ab. »Ich bin dankbar, dass ich noch lebe. Und dass meine Leber mich offenbar noch überleben wird. Ich bin dankbar für ein Dach über dem Kopf – auch wenn es nicht mein eigenes ist. Ich bin dankbar für die Gastfreundschaft, das Essen … und den Brandy.« Er hielt inne und musterte die versammelte Gesellschaft. »Und zu meiner eigenen Überraschung – wirklich, niemanden trifft diese Erkenntnis so hart wie mich – bin ich dankbar für so viel … so viel Menschlichkeit.« Er machte eine Pause, als wüsste er selbst nicht, was er sagen wollte, dann murmelte er: »Für alles, was war. Und für alles, was noch kommt.« Ein Moment der Stille. Dann ein lautes Klirren, als Lord Brambleton vor Schreck sein Besteck fallen ließ. Lord Featherstonehaugh grinste schief und erhob sein Glas. »Fröhliche Weihnachten.«
Unter dem Tisch lag der Hund und lauschte. Er verstand vieles, nicht alles, aber genug. Die Menschen sprachen von Dankbarkeit, als wäre sie eine komplizierte, zerbrechliche Sache, die sorgfältig ausbalanciert werden musste. Für ihn war es einfach: Er war dankbar für das Leben, das man ihm schenkte. Für den Napf, der immer voll war. Für die Hand, die ihn hinter dem Ohr kraulte. Für das Glück, an den meisten Tagen einfach nur ein guter Hund sein zu dürfen.
Und für die Erkenntnis, die er langsam gewann: Es gab Menschen, die wie Schafe, und Menschen, die wie Wölfe waren. Das Gleiche galt für Hunde und Katzen. Und dann gab es noch die, die sich bei Tisch nicht zu benehmen wussten. Die unverschämte Fragen stellten. Die volltrunken in den Weihnachtsbaum fielen und unzweifelhaft mit einem Waschbären verwandt sein mussten. Aber auch die gehörten am Ende irgendwie dazu.
Zum Fest, Zur Familie. Zu diesem eigentümlichen Gefühl, das sich nur mit einem Wort beschreiben ließ: Zuhause.




© Johannes Willwacher