Eine Neujahrsgeschichte – mit Herr und Hund: Zwischen großen Worten und kleinen Wahrheiten beginnt Veränderung oft mit einem Lächeln.
Hope smiles from the threshold of the year to come.
Alfred Lord Tennyson
Ah, Silvester! Eine Nacht, in der die Zeit für einen Moment innehält, als könnte sie verschnaufen, bevor sie sich wieder atemlos in Bewegung setzt. Die Luft ist erfüllt von einer stillen Erwartung, einem Hauch von Möglichkeiten, die über allem liegen, so fein wie Sternenstaub. Eine Nacht, in der die Welt sich im Glanz ihrer eigenen Versprechen spiegelt, in der Menschen ihre Vorsätze mit der gleichen Hingabe fassen, mit der sie kurz darauf ihre Champagnergläser heben. Große Pläne, große Träume – und irgendwo dazwischen die unausgesprochene Ahnung, dass am Morgen alles wieder beim Alten sein wird. Aber vielleicht, nur vielleicht, könnte es diesmal doch anders sein, anders werden. Vielleicht hält das neue Jahr tatsächlich sein Versprechen – und …
Nein, das geht noch besser. Himmel, wer hat das hier überhaupt geschrieben? Ach ja, ich! Also, noch einmal von vorn!
Es war Silvesterabend, und der Schafstall lag im Halbdunkel. Ein eisiger Wind pfiff durch die Ritzen, aber im Inneren war es warm – zumindest, solange man nicht hoch oben auf einem harten Holzbalken saß. Genau dort thronte nämlich der Waschbär und blickte mit feierlicher Miene auf die Schafe unter ihm hinab.
»Genossinnen und Genossen«, begann er. »Das Jahr neigt sich dem Ende, und was haben wir erreicht? Nichts! Die Besitzverhältnisse sind unverändert, die Machtstrukturen ebenso. Aber das neue Jahr – das neue Jahr kann alles ändern! Wir müssen uns solidarisieren, nicht länger mit den Brosamen abspeisen lassen, während die herrschende Klasse an langen Tafeln diniert! Wahre Gleichheit kann nur durch …« Weiter kam er nicht.
»Was sind Brosamen?«, fragte ein Schaf aus der ersten Reihe. Der Waschbär blinzelte. »Krumen. Reste. Der Abfall der Mächtigen.« Ein Raunen. »Oh!« Das Schaf nickte begeistert. »Meinst du, es gibt noch mehr davon? Ich mag Krumen. Besonders Brotkrumen, wenn sie schön trocken sind.« Der Waschbär seufzte. »Es geht nicht um Krümel, sondern um Gerechtigkeit!« Betretenes Schweigen. »Gerechtigkeit klingt schön«, sagte ein anderes Schaf schließlich versonnen. »Kann man sie fressen?« Alle Augen wandten sich gespannt dem Waschbären zu. »Gerechtigkeit ist eine Idee!«, rief derselbe gequält und fuchtelte mit den Pfoten über seinem Kopf herum. Dem Schaf schien die Antwort aber nicht zu genügen. »Gibt es denn dann mehr zu fressen?«, fragte es ungeduldig. Der Waschbär schloss für einen Moment die Augen. »Ja, wahrscheinlich gibt es dann auch mehr zu fressen. Aber das ist nicht der Punkt! Wir sind von der Geschichte systematisch marginalisiert worden. Wir wurden übersehen, übergangen, bestenfalls als dekorative Kulisse benutzt! Doch ich sage euch: Das wird sich ändern. Alles kann, alles muss besser werden!«
»Ich mag Heu«, rief eines der Schafe. Der Waschbär öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sog scharf Luft ein. »Es geht um mehr als Heu! Es geht um die Zukunft! Um das Prinzip! Um eine neue Ordnung!« Ein Schaf legte den Kopf schief. »Aber wenn alles besser wird, was ist dann mit den Dingen, die jetzt schon gut sind? Die könnten dann ja schlechter werden.« Der Waschbär verzog das Gesicht. »Das ist … nicht ganz falsch. Aber wir müssen das große Ganze sehen! Die Revolution braucht einen Funken!« Er hob eine Pfote, als würde er ein Streichholz entzünden. »Wie Heu, wenn man eine Laterne umstößt?«, fragte ein junges Schaf begeistert. »Nein! Kein Heu! Und kein echtes Feuer!« Der Waschbär seufzte tief und ließ sich auf dem Balken nieder. »Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt versuche.« Er vergrub das Gesicht zwischen den Pfoten. »Vielleicht erklärst du auch einfach nur schlecht?«, bemerkte ein besonders dickes Schaf spöttisch. Der Waschbär sprang auf. »Genossinnen und Genossen, wir haben eine Welt zu gewinnen! Ställe ohne Zäune, Felder ohne Gatter! Ein Leben in Freiheit und Gleichheit! Wir …« Wieder fiel im eines der Schafe ins Wort. »Müssen wir darüber abstimmen?« fragte es. Der Waschbär rollte mit den Augen. »Nein, wir müssen es nur erkennen …«
In diesem Moment trat der Hund in den Stall. Der Waschbär hielt mitten im Satz inne, seine Augen weiteten sich. Dann verzog er sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse. »Natürlich! Natürlich musst du jetzt kommen! Deus ex machina! Ich bin begeistert, nein, … ich bin bin entsetzt! Dem Autor wollte wohl nicht Besseres einfallen, um das Ganze in Gefälligkeit ausklingen zu lassen, was? Ein Hund! Oh, ja, schreiben wir noch einen Hund in die Geschichte. Alle mögen Hunde, nicht wahr? Hunde sind so … so … so ungemein gut darin, jeden revolutionären Gedanken vom Tisch zu wedeln. Setzen wir dem geneigten Leser also einen Hund vor die Nase, um das Narrativ zu korrigieren! Ein Hund, ein paar warme Worte und schon schließt sich der Kreis!« Er sprang auf und rannte in seiner Rage auf dem Balken hin und her. »Es ist immer das Gleiche! Jedes verdammte Mal! Ein kluger Gedanke, und dann? Dann kommt ein Hund und macht alles …« Er fuchtelte wild mit den Pfoten. »… besser!«
Die Schafe schauten erwartungsvoll zum Hund. Der Hund schaute zum Waschbären. Dann zuckte er schließlich mit den Schultern und sagte: »Es ist, wie es ist.« Und so kam das neue Jahr.




© Johannes Willwacher