Der Welt den Rücken zuge­dreht ste­he ich mit gezück­tem Taschen­tuch am Spül­be­cken. Vor dem Fens­ter müht sich gera­de die Son­ne ab, über den Hügel am Ran­de mei­nes Blick­fel­des zu klet­tern, es ist halb acht. Über mei­ne Schul­ter hin­weg, auf der ande­ren Sei­te, schiebt sich zöger­lich etwas Schwarz-wei­ßes in mein Blick­feld – lang­sam dre­he ich mich um und das schwarz-wei­ße Etwas bricht wie tot zusam­men. Ich bli­cke auf das Taschen­tuch, das frisch und weiß in mei­ner Hand liegt – und lache.

Der Kaf­fee am Mor­gen, das sich rei­men­de Piep-piep am Mit­tags­tisch oder die Wor­te, die man – nach kur­zem Räus­pern – zur Begrü­ßung wählt: Klein und zunächst unbe­deu­tend durch­zie­hen zahl­lo­se Tätig­kei­ten unse­ren All­tag, wird Gewohn­tes wie­der­holt und Wie­der­hol­tes ganz gewöhn­lich, der Tag, wenn schon nicht aus frei­en Stü­cken wahr, schön und gut, zumin­dest ritu­ell in Ord­nung gebracht. Wer mit einem Hund zusam­men­lebt, wird ähn­li­ches beob­ach­ten – sei es das genüss­li­che Stre­cken zur mor­gend­li­chen Begrü­ßung, das so lan­ge aus­ge­hal­ten wird, bis man sich selbst ver­renkt und aus­ge­at­met hat, die sanf­te Ermah­nung zur Essens­zeit oder der all­abend­li­che Gang zur Spiel­zeug­kis­te, der unum­gäng­lich mit der Frei­ga­be eines grü­nen Gum­mi­kno­chens enden muss: Gewohn­hei­ten geben Sicher­heit und stär­ken das Mit­ein­an­der. Das sich mit­un­ter längst nicht mehr sagen lässt, was davon ursäch­lich von wem, Mensch oder Hund, auf den Weg gebracht wor­den ist, stört nicht wei­ter – auch wenn die Beant­wor­tung der Fra­ge, wer schluss­end­lich wen kon­di­tio­niert in man­cher Mensch-Hund-Bezie­hung durch­aus auf­schluss­reich sein dürf­te – was zählt, ist das gute Gefühl.

Kurz vor Weih­nach­ten fiel mein Blick auf den Kalen­der. Gedank­lich hat­te ich die Tage um den vier­ten Advent längst rot ein­ge­kreist. Rot? Nein, nicht ein­fach nur rot: Blut­rot. Von Blut jedoch kei­ne Spur – das Taschen­tuch, das sich zwei Hand­grif­fe spä­ter zwi­schen den haa­ri­gen Hin­ter­läu­fen der vor mir lie­gen­den Hün­din wie­der fand, blieb weiß. Auch die dar­auf fol­gen­den Tage ver­gin­gen ohne den – nun frag­los über­fäl­li­gen – roten Trop­fen. Nach­denk­li­ches Kopf­krat­zen: Soll­ten mich sowohl der Zyklus mei­ner Hün­din, als auch deren unzwei­fel­haft zur Schau gestell­tes Ver­hal­ten aufs Kreuz gelegt haben? Wie sonst lie­ße sich erklä­ren, dass mir, Mor­gen für Mor­gen, bloß blü­ten­wei­ßer Zell­stoff, nicht aber das kleins­te biss­chen Blut ent­ge­gen strahl­te? Wäh­rend ich dem Gedan­ken noch lei­se hin­ter­her wink­te, das Taschen­tuch wedelnd zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger gepresst, tat es hin­ter mei­nem Rücken einen dump­fen Schlag. Das, was da gera­de umge­fal­len war – oder bes­ser: das was sich hat­te umfal­len las­sen – bot einen selt­sam ver­trau­ten Anblick: Die Hin­ter­läu­fe rudernd auf­ge­reckt, blitz­ten mich zwei dunk­le Augen auf­for­dernd an. Stum­mes Erstau­nen – und ein ungläu­bi­ger Blick auf das Taschentuch.

Hun­de ler­nen durch Wie­der­ho­lung. Was Tag für Tag, Woche für Woche wie­der­holt wird, prägt sich ein, wird fein ver­knüpft. Man­ches gelingt leich­ter als ande­res. Man­ches bedarf kei­ner Wor­te, son­dern nur eines stum­men Fin­ger­zeigs. Und bei man­chem scheint aus­rei­chend, zu Tages­be­ginn ein Taschen­tuch zu zücken. Vor zehn Tagen schließ­lich – der Trick mit dem Taschen­tuch hat­te mitt­ler­wei­le den Namen »Wie machen die Mäd­chen im Bahn­hofs­vier­tel« bekom­men: Dun­kel­ro­tes Blut. Der zwei­te Pro­ges­te­ron­test vor zwei Tagen zeig­te, dass wir noch Zeit haben, dass es noch dau­ern wird, bis wir zum Decken fah­ren dür­fen. Das Ergeb­nis des drit­ten Tests erfah­re ich in ein paar Stunden …

© Johannes Willwacher