05|04|2017 – Unter dem Kirschbaum: unsere Welpen in der 7. Lebenswoche
05|04|2017 – Unter dem Kirsch­baum: unse­re Wel­pen in der 7. Lebenswoche

Wenn die Welpen die Welt entdecken, ist die alte Dame immer mit dabei: von oben hält sie ihre Hand über die Welpen – und wenn sie müde sind, schlafen sie in ihrem Schoß. Mit den Worten eines Kirschbaums …

Never for­get where
you’­re coming from.
Never pre­tend that it’s all real.
Some­day soon this will all be
someone else’s dream.
»Never for­get«, Take That (1995)

Als ich jung war, sind noch Pfer­de­hu­fe über das Pflas­ter hin­weg geklap­pert, hat man das Vieh auf dem Weg zu den Stal­lun­gen, die sich hin­ter dem unebe­nen, grau­en Mau­er­werk befan­den, an mir vor­über geführt. Kaum einen Meter groß, hat man mich und mei­ne Schwes­ter hier Wur­zeln schla­gen las­sen – in Sicht­wei­te zwar, für zwei jun­ge Bäu­me, deren Äste sich noch längst nicht ver­zweigt, deren Wur­zeln den Grund noch lan­ge nicht durch­zo­gen hat­ten, jedoch Wel­ten ent­fernt. Sie begann frü­her zu blü­hen als ich, das konn­te ich spü­ren – ein Jahr oder zwei mögen es gewe­sen sein –, und bis auch ich im Früh­jahr dar­auf die ers­ten Knos­pen aus­trieb und mich mit leich­ten, wei­ßen Blü­ten schmück­te, hat­te sie mich bereits – weil ich ein wenig wei­ter abseits, ein wenig mehr im Schat­ten stand – mit vie­len fri­schen, jun­gen Trie­ben über­ragt. Wenn die Son­ne am Mor­gen über den Hügel wan­der­te, waren es immer ihre Blü­ten und Blät­ter, die sich im ers­ten Licht ent­zün­de­ten, die rot und gol­den schim­mer­ten, nicht mei­ne – mei­ne reck­ten und streck­ten sich erst, wenn die Son­ne schon hoch am Him­mel stand, schon weit um das Haus her­um gewan­dert war – sie sam­mel­te mehr Stun­den. Das mag die Grö­ße mei­ner Schwes­ter erklä­ren – und auch die Blü­ten und die süße­ren Früch­te. Wäh­rend sie sich in ihrem Über­fluss aber dar­auf beschränk­te zu wach­sen, bloß groß und immer grö­ßer zu wer­den, und sie den Din­gen, die sie umga­ben, kaum Beach­tung schenk­te, ließ das Schat­ten­da­sein mir die Gele­gen­heit, Ein­drü­cke zu sammeln.

Die Men­schen, die das Haus gebaut und den Gar­ten ange­legt hat­ten, star­ben noch bevor ich mit mei­nen Ästen das Dach über­ra­gen konn­te, und weil sich deren Kin­der anders­wo ihr Glück gesucht und ver­hei­ra­tet hat­ten, wur­den das Haus und der Gar­ten mit­samt mei­ner Schwes­ter und mir ver­kauft. Die Käu­fe­rin, die das Haus dar­auf bezog, brach­te vie­le jun­ge Hun­de mit sich, die in mei­nem Schat­ten spiel­ten, sich an mei­ner Rin­de empor reck­ten und man­chen Ast, den mir der Herbst­wind her­un­ter­riss, auf­sam­mel­ten und mit größ­ter Freu­de zer­bis­sen. Aus den jun­gen Hun­den wur­den alte, auf die Alten folg­ten Neue, und wäh­rend ich mir einen Jah­res­ring um den ande­ren wach­sen ließ, wur­de im Haus neben­an man­cher Wel­pe gebo­ren, dem ich ein Leben lang Freund und Schat­ten­spen­der war. Dar­auf folg­ten ein Mann und eine Frau, die Haus und Gar­ten über­nah­men, und die – wohl weil sie weder Kin­der, noch Hun­de hat­ten – nicht nur began­nen, eine dich­te Hecke zu pflan­zen und neue Bee­te anzu­le­gen, son­dern auch mei­ner Schwes­ter und mir, die das Haus nun­mehr weit über­rag­ten, mit Sche­ren und Sägen zu Lei­be zu rücken. Wohl zwan­zig Jah­re müs­sen es gewe­sen sein, in denen ich bloß ein Baum, kein Freund und Schat­ten­spen­der gewe­sen bin. Bis schließ­lich die Wel­pen zu mir zurückkamen.

Kaum mehr als vier Wochen haben die Wel­pen, um sich mit mir ver­traut zu machen. Das gelingt ihnen leicht, denn ich ver­hal­te mich ruhig – ganz so, wie es Bäu­men zu eigen ist –, und stö­re mich nicht dar­an, wenn sie mit spit­zen Zäh­nen in mei­ne Rin­de rit­zen oder tie­fe Löcher zwi­schen mei­ne Wur­zeln gra­ben. Auch die Fünf, die sich in die­sem Früh­jahr in mei­nem Schat­ten tum­meln, wer­de ich bloß eine Zeit lang beglei­ten – ich bin mehr als neun­zig Jah­re alt und habe vie­le kom­men und gehen sehen. Sie wach­sen schnell, so wie die Knos­pen an mei­nen Ästen, sprin­gen auf und begin­nen zu blü­hen. Und bei­na­he so, wie die Blät­ter mei­ner Blü­ten mit dem Wind davon getra­gen wer­den – dann, wenn der Früh­ling spät und satt gewor­den ist –, trägt es auch sie bald hin­fort. Ob nach ihnen ande­re kom­men wer­den? Wer will das sagen? Viel­leicht wird ande­res kom­men. Weil – auch wenn man­che Din­ge enden – nichts jemals wirk­lich zu Ende geht.

Auf Früh­ling folgt Som­mer, auf den Som­mer der Herbst. Und nach dem Win­ter wie­der ein Frühling.

© Johannes Willwacher