Es gibt nicht wenige Märchen, denen der Wald als Kulisse dient. Und in ebenso vielen zieht jemand in die Welt, um etwas zu lernen. Mit unseren Welpen haben wir einmal beides versucht …
Fast zweihundert Jahre bevor die Brüder Grimm den ersten Band ihrer »Kinder- und Hausmärchen« herausbrachten, hatte der italienische Schriftsteller Giambattista Basile mit dem »Pentameron« – dem Märchen der Märchen – bereits eine ähnliche Sammlung begonnen, die von seiner Schwester nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Während manche der gesammelten Märchen auffällige Ähnlichkeiten zu denen der beiden hessischen Brüder aufweisen mögen und man sich bei der einen oder anderen Erzählung an »Aschenputtel«, »Rapunzel« oder den »König Drosselbart« erinnert fühlt, ist doch manche darunter, die ganz neu, ganz unbekannt klingt. Eine davon ist die siebte Erzählung des fünften Tages: das »Märchen von den fünf Söhnen«. Und das lautet in etwa so …
In einer windschiefen Hütte im Wald lebte ein Vater, der hatte fünf Söhne. Der Vater war schon alt, hatte sich sein Leben lang geplagt, bemüht, die Söhne gut zu versorgen und es ihnen an nichts fehlen zu lassen – die Söhne aber waren bloß faul und gefräßig, lagen den lieben, langen Tag in der Sonne und dachten nicht im Traum daran, dem Vater bei der Arbeit zu helfen. Als der Vater eines Tages zu der windschiefen Hütte zurückkam – die Kiepe mit vielen Klaftern Holz beladen, die er im Wald geschlagen hatte –, und sah, dass die Fünf nicht nur die Vorräte aufgegessen, den Milchkrug zerbrochen und sich einen Spaß daraus gemacht hatten, mit erdbraunen Füßen durch die Betten zu springen, sondern auch noch immer ihre Nachtgewänder trugen, reichte es ihm und mit großem Donnerwetter rief er seine Söhne herbei. Dass er sie liebe, ließ er sie wissen, dass es aber so nicht weitergehen könne, sie für ein Jahr hinaus in die Welt und etwas lernen müssten, das dem Vater zuträglich sei. Murrend packten die Fünf also ihre Bündel, umarmten den Vater ein letztes Mal – und nachdem der Vater jedem noch einmal guten Mut zugesprochen und Glück gewünscht hatte, zog jeder von ihnen aus in den Wald, jeder in eine andere Richtung davon.
Kurz und gut: nach Jahresfrist kehrten die fünf Söhne zum Vater zurück und ein jeder berichtete mit stolzgeschwellter Brust, welche Abenteuer er auf seinen Reisen erlebt, was man ihm gelehrt hatte. Der Älteste war unter die Diebe gegangen und hatte sich darin geübt, die Manteltaschen reicher Bürger um die Geldbörsen zu erleichtern, hatte Läden ausgeraubt und manchem Wirt die Wurst vom Tisch gestohlen. Der Zweite und der Dritte hatten gelernt Schiffe zu bauen und mit der Armbrust zu schießen, der Vierte ein Kraut gefunden, das Tote zum Leben erweckt, und der Jüngste es sich schließlich zu eigen gemacht, die Sprache der Vögel zu verstehen.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Dem Jüngsten zwitscherte ein Vogel von einer schönen Prinzessin zu, die ein wilder Mann entführt und auf einen einsamen Fels im Meer gebracht hatte – der Piepmatz erzählte außerdem, dass der König in großer Sorge sei und demjenigen, der ihm die Tochter wieder brächte, deren Hand verspräche. Während die Dinge, die man den Fünfen gelehrt hatte, für sich genommen kaum besonders waren, erfüllten vereint doch alle ihren Zweck: gemeinsam gelang es ihnen zu dem einsamen Felsen zu segeln, den wilden Mann zu überlisten, ihn mit Pfeil und Bogen auf den Meeresgrund zu schicken und die Prinzessin, die aus lauter Angst die Lebensgeister ausgehaucht hatte, zurück ins Leben zu holen. Die Söhne bekamen ihren Lohn, der Vater die Prinzessin. Ende gut, alles gut.
Ein verwunschener Wald – und fünf Welpen, die gemeinsam mit ihrer Mutter die Welt erkunden: es wird jedem einleuchten, warum mir gerade diese Geschichte – die ich, zugegeben, ziemlich nachlässig nacherzählt habe – nach unserem gemeinsamen Ausflug in den Wald eingefallen ist. Wie für die fünf Brüder, wird es auch für unsere fünf Welpen langsam Zeit, mehr von der Welt zu entdecken – zu lernen, sich auszuprobieren und zu erfahren, was noch in ihnen steckt. Der eine hat es dabei vielleicht einfacher, als der andere – ist wagemutiger und neugieriger, wo sich der andere eher zurückhaltend und schüchtern zeigt, sich noch ein wenig mehr auf den Schutz und die Fürsorge der Mutter verlässt. In den letzten Wochen der Welpenzeit tun wir unser bestes, um jeden unserer Welpen entsprechend seiner Anlagen zu fördern, ihm die Angst zu nehmen und möglichst viel von der Welt, die auf ihn wartet, zu zeigen. Auch wenn uns dafür nicht – wie dem Alten in der Geschichte – die Hand der Prinzessin winkt.
© Johannes Willwacher