Der Herbst ist da: über Licht und Schatten – und den Einfluss, den die Corona-Krise auf die Hundezucht nimmt.

Die Blät­ter wer­den fal­len und die Win­de sich heben – und der Him­mel wird ein win­ter­li­ches Weiß anneh­men. Die Men­schen wer­den sich ver­ängs­tigt in den Häu­sern ver­ste­cken – allei­ne und dicht gedrängt –, und mit jedem Tag wer­den sie ein­sa­mer und wüten­der wer­den. So wie der Herbst­wind, der das Laub durch ver­wais­te Stra­ßen trägt. 

Die­ser Herbst ist anders – und das nicht allein, weil er nas­ser und dunk­ler ist. Er ist anders, weil das Jahr anders war. Weil das Jahr jedem die Ablen­kung genom­men, jeden auf sich selbst zurück­ge­wor­fen hat. Weil kei­ner ver­schont geblie­ben ist. Von der Fra­ge: was wird? Also klin­gelt das Tele­fon, zum drit­ten Mal an die­sem Vor­mit­tag, also kün­digt ein ble­cher­nes Klin­geln erneut drei unge­le­se­ne Nach­rich­ten an, die im Post­ein­gang lie­gen. Die­ses Jahr ist anders, weil sich jeder auf der Suche befin­det. Weil jeder Ant­wor­ten, Aus­we­ge, Ablen­kung braucht. Jeder Hun­de­züch­ter hat das in die­sem Jahr zu spü­ren bekom­men – bei jedem haben die ers­te und die zwei­te Wel­le unzäh­li­ge Wel­pen­an­fra­gen mit sich gebracht.

Mann mit springendem Border Collie
15|11|2020 – Dirk und Zion

Die Abga­be­wel­le von Haus­tie­ren, die zu Beginn der Pan­de­mie von Tier­schüt­zern auf­grund wirt­schaft­li­cher Nöte und irra­tio­na­ler Ängs­te befürch­tet wor­den ist, ist nicht ein­ge­tre­ten. Die Kri­se hat statt­des­sen zu lan­gen War­te­lis­ten bei den Züch­tern geführt und die Nach­fra­ge allein zwi­schen März und April um mehr als 120 Pro­zent anstei­gen las­sen. Bis auf das drei­fa­che soll sie zwi­schen­zeit­lich ange­stie­gen sein. Was für mich als Hun­de­be­sit­zer nach­voll­zieh­bar scheint – ein Hund ist in schwe­ren Zei­ten nicht nur ein ver­läss­li­cher Freund, son­dern ver­treibt auch zuver­läs­sig jed­we­de Lan­ge­wei­le –, ist für mich als Züch­ter ein Grund, auf­zu­mer­ken: sind nach den unüber­leg­ten Hams­ter­käu­fen des Früh­jahrs – nach Nudeln, Mehl und Toi­let­ten­pa­pier – nun die Wel­pen dran?

Jeden Mor­gen wird eine ande­re Zei­tung, eine ande­re Zeit­schrift, eine ande­re Chro­nik von Din­gen, die in die­sem Jahr pas­siert sind, auf dem Küchen­tisch lie­gen – und jeder wird ein­ge­hüllt sein in das Gefühl von Stau­nen und Ver­wir­rung, Ver­zweif­lung und Erschöp­fung, das aus den Schlag­zei­len drängt.

Ein Klick auf die ein­schlä­gi­gen Ver­kaufspor­ta­le genügt, um die Befürch­tung zu bestä­ti­gen: die gestei­ger­te Nach­fra­ge hat längst zu einer wah­ren Preis­explo­si­on geführt. Dass die Her­kunft der Wel­pen oft­mals frag­wür­dig ist und sich der Wahr­heits­ge­halt der von den Anbie­tern getrof­fe­nen Aus­sa­gen kaum nach­voll­zie­hen lässt, ist dabei nur eine Sei­te des Pro­blems. Die ande­re Sei­te sind die Wel­pen­käu­fer selbst: wäh­rend die Kri­se idea­le Bedin­gun­gen geschaf­fen hat, um dem – mehr oder min­der lan­ge geheg­ten – Wunsch nach vier­bei­ni­ger Gesell­schaft nach­zu­ge­ben, wird das Ende der Kri­se zwangs­läu­fig vie­le vor die Her­aus­for­de­rung stel­len, den »neu­en« Hund in ihre »altes« Leben zu inte­grie­ren. Und wie vie­le wer­den dar­an scheitern?

Border Collie rennt durch herbstlichen Wald
06|11|2020 – Mor­gen­run­de im Herbst­wald: Zion

»Wir sind eine Fami­lie mit drei Kin­dern und haben das Gefühl, das unse­rem Leben noch etwas fehlt«, lese ich, als ich gegen Mit­tag schließ­lich die Zeit fin­de, mich den ein­ge­gan­ge­nen Mails zu wid­men. »Bedingt durch die Pan­de­mie hat sich der Lebens­mit­tel­punkt ins Home-Office ver­la­gert und die Zeit, um einem Hund gerecht wer­den zu kön­nen, ist end­lich vor­han­den«, schreibt jemand in einer wei­te­ren Mail. »Wir wün­schen uns einen Wel­pen, am bes­ten sofort«, heißt es in beiden.

Die Blät­ter wer­den sich rot, oran­ge und gelb fär­ben, und an dem Tag, an dem sie fal­len, den Grund in ein poin­ti­lis­ti­sches Gemäl­de ver­wan­deln. Einen Tag spä­ter schon wird das Leuch­ten ver­blasst sein. Wird sich zu braun, zu schwarz aus­dür­ren. Bis zum schwär­zes­ten Tag.

Wäh­rend ich im Früh­jahr oft­mals noch Mit­leid emp­fun­den habe – ver­sucht habe nach­zu­emp­fin­den, wie sich ein Fami­li­en­le­ben zwi­schen Home­schoo­ling, Kon­takt­be­schrän­kun­gen und feh­len­dem Frei­zeit­an­ge­bot gestal­tet –, ist im Herbst nur noch wenig davon übrig­ge­blie­ben. »Der Bor­der Col­lie ist viel mehr als nur ein Hund, er ist eine Lebens­auf­ga­be«, habe ich in den ver­gan­ge­nen Mona­ten des­halb ger­ne her­aus­for­dernd zurück­ge­schrie­ben, »kein Spiel- und Frei­zeit­part­ner, um Kin­der vor­über­ge­hend zufrie­den­zu­stel­len«. Auf Ant­wor­ten war­te ich bis heute.

Border Collie Züchter mit seinen Hunden
14|11|2020 – Zion, Hei­di, Nell und ich

Die Coro­na-Kri­se ver­langt jedem Züch­ter noch ver­ant­wort­li­che­re Ent­schei­dun­gen ab. Sie ver­langt, finan­zi­el­le Inter­es­sen hint­an­zu­stel­len, sich nicht der Illu­si­on hin­zu­ge­ben, dass die gestei­ger­te Nach­fra­ge alles mög­lich macht. Sie ver­langt, nichts über­eilt, nichts leicht­fer­tig, nichts gegen das Wohl der Wel­pen zu ent­schei­den. Und viel­leicht auch, eher einen Wurf auf­zu­schie­ben, als noch einen mehr mög­lich zu machen, bei dem die Prä­gung erschwert und Besuch nur unter Auf­la­gen mög­lich ist. Denn auch wenn die ers­te Wel­le von Abga­be­hun­den aus­ge­blie­ben ist: die zwei­te Wel­le wird kom­men, wenn die Infek­ti­ons­zah­len rück­läu­fig sind – wenn die Bedin­gun­gen, die durch die Pan­de­mie geschaf­fen wor­den sind, wie­der dem All­tag wei­chen müssen.

Der Herbst ist da, die Blät­ter fal­len. Und das Tele­fon klin­gelt noch vie­le Male an die­sem Tag.

Zita­te frei nach: Jill Lepo­re: An Octo­ber Sur­pri­se in New England,
in: The New Yor­ker, Octo­ber 6, 2020

© Johannes Willwacher