Sehen und gesehen werden: über Blicke, die man sucht, und solche, die man vermeidet. Und über sechs Border Collie Welpen, die gerade die Augen aufgemacht haben.
Es gibt dich.
Dein Ort ist,
wo Augen dich ansehen.
Wo sich Augen treffen,
entstehst du.
Polternd fliegt die Kellertür auf, und während ich noch erschrocken aus den Kissen hochschrecke, höre ich, wie die Rollen des Staubsaugers über die Fliesen im Eingang geschoben werden. Darauf folgen Schritte, die Tür schlägt zu, und gerade, als ich mich aufgesetzt und mir den Schlaf aus den Augen gerieben habe, steht Dirk vor mir und schaut mich an. Als sich unsere Blicke treffen, fallen mir zuerst die erhobenen Brauen meines Gegenübers auf, und für einen kurzen Augenblick bin ich geneigt, den auffordernden Ausdruck auf mich zu beziehen. Zu denken, dass sein Blick mich bewertet, den Staubsauger in Beziehung zu den zerwühlten Kissen setzt, und ich mich deshalb entschuldigen muss. Schließlich habe ich geschlafen, während er – was auch immer – erledigt hat, und meine eigenen Bedürfnisse damit über die Möglichkeit gestellt, ihm bei – was auch immer – zur Hand zu gehen. Stattdessen entscheide ich aber, es ihm gleichzutun, und selbst die Brauen zu heben. Mein Gegenüber räuspert sich, seine Züge beginnen sich zu entspannen, und nachdem er sich mit dem Handrücken über die Stirn gewischt hat, sagt er, dass ich ihm noch dabei helfen müsse, die schwere Tischplatte vom Dachboden herunter zu tragen. Ich gähne, strecke mich, sage: »Gleich!«, möchte mir aber viel lieber noch die Hände vor die Augen halten. Möchte ganz hinter den Handflächen verschwinden, sagen, dass wenn ich ihn nicht sehe, er mich auch nicht sehen kann – während ich aber noch über die Möglichkeit dessen nachdenke, ist er schon wieder gegangen.
Von einem Ruf gehalten,
immer die gleiche Stimme,
es scheint nur eine zu geben,
mit der alle rufen.
Seit den frühen achtziger Jahren haben sich zahlreiche Studien mit der Frage beschäftigt, inwiefern sich die Vorstellung von Sehen und Gesehenwerden bei Kindern und Erwachsenen unterscheidet. Grundlage dessen ist in allen Fällen die Beobachtung gewesen, dass Kinder – insbesondere bis zum Alter von etwa fünf Jahren – davon überzeugt sind, für ihr Gegenüber unsichtbar zu sein, wenn sie sich die Augen zuhalten. Allein, wenn ihr Blick erwidert wird – so die Erkenntnis –, treten sie in eine Beziehung mit dem anderen, sind nicht nur sie, sondern auch ihr Gegenüber erst in der Lage, das Wesen des anderen zu begreifen. »Wenn mich niemand ansieht, verschwinde ich«, lässt sich darauf schlussfolgern. Oder auch, dass das Ich nicht durch die Abgenzung vom Gegenüber, sondern vielmehr durch die Begegnung – durch das gegenseitige Ansehen – entsteht.
Dem Blickkontakt kommt auch in der Beziehung von Menschen und Hunden eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Während Hunde bei der Kontaktaufnahme mit ihren Artgenossen den direkten Blickkontakt zwar nach Möglichkeit vermeiden, und das Fixieren des Gegenübers zumeist als Provokation gewertet wird, findet die soziale Kommunikation zwischen Mensch und Hund aber aus gutem Grund über die Augen statt. Der Blickkontakt – das hat eine Studie an der japanischen Azabu University in Sagamihara bereits vor fünfzehn Jahren bewiesen – löst auf beiden Seiten nämlich starke neuronale Prozesse aus, in deren Verlauf es zu einer erhöhten Ausschüttung des Bindungshormones Oxytocin kommt. Wenn sich Mensch und Hund vertraut in die Augen schauen, wird durch den hormonellen Bindungsverstärker also ein Gefühl von sozialer Belohnung erzeugt und über die Artgrenzen hinweg fürsorgliches Verhalten ausgelöst. Weil Vergleichbares in der Interaktion zwischen Menschen und Wölfen nicht nachgewiesen werden konnte, liegt die Vermutung nahe, dass diese hormonelle Besonderheit sich erst im Zuge der Domestizierung entwickelt hat. »Wenn du mich ansiehst, entstehe ich neu«, lässt sich das vielleicht übersetzen, »wenn du meinen Blicken nicht ausweichst, dann bin ich dir treu«.
Du fielest,
aber du fällst nicht.
Augen fangen dich auf.
Nachdem ich mir in der Küche eine Tasse Kaffee eingeschenkt habe und die steile Kellertreppe hinabgestiegen bin, bleibe ich für einen Moment am Fuß der Treppe stehen. Mein Blick fällt durch den offenen Durchgang zu meiner Rechten, sucht vergeblich nach den Kisten und Kartons, die sich dort sonst als willkürliches Durcheinander erblicken lassen, findet stattdessen aber nur eine ungewohnte Ordnung. Die Kisten und Kartons sind vor den Regalen gestapelt, die verstreut liegenden Werkzeuge eingesammelt und auf dem Schrank aufgereiht – und auch der Staub und die Spinnweben entfernt, die sich in der Werkstatt und in dem sich anschließenden Welpenzimmer seit dem Auszug der letzten Welpen angesammelt hatten. »Das Wertschätzung gleichbedeutend mit Ansehen ist, ist eine Besonderheit der deutschen Sprache«, denke ich im Stillen bei mir, »um den Wert von etwas zu schätzen, muss ich es ansehen, muss das Bedürfnis des anderen befriedigen, wahrgenommen zu werden«. Und deshalb lächelt Dirk auch ganz beseelt, als ich ihm mitteile, was ich gesehen habe. Weil sich sehen und gesehen werden ganz einfach gut anfühlt.
Es gibt dich,
weil Augen dich wollen,
dich ansehen und sagen,
dass es dich gibt.
Hilde Domin
© Johannes Willwacher