Die neunte Lebenswoche – die letzte vor dem Auszug unserer Border Collie Welpen: über gebrochene Herzen, handgenähte Welpenhalsbänder und Langsamkeit.
Piece of My Heart
Als Erma Franklin vor etwa zwanzig Jahren starb, lag ihr größter Erfolg bereits mehr als fünfunddreißig Jahre zurück. Schon in den siebziger Jahren hatte sie dem Musikgeschäft den Rücken gekehrt und die große Bühne einer ihrer beiden Schwester überlassen. Während Erma die zwei Jahre jüngere Aretha zwar bis zu ihrem Tod noch gelegentlich als Backgroundsängerin unterstützte, hatte dieselbe ihrer älteren Schwester aber bereits zu Beginn ihrer kurzen Karriere jegliche Unterstützung versagt. Wütentbrannt soll sie sich 1962 – kurz nachdem die spätere Queen of Soul selbst ihren ersten Plattenvertrag unterschrieben hatte – beim Vater der Schwestern darüber beschwert haben, dass die Ambitionen ihrer Schwester ihrer eigenen Karriere schaden würden und es doch vollkommen genüge, wenn es eine singende Franklin-Schwester gäbe. Auch die Geschichtsschreibung hat das schlussendlich ähnlich gesehen. Und so erinnert sich selbst beim größten Erfolg von Erma Franklin – dem 1967 erschienen »Piece of My Heart – kaum noch jemand an ihren Namen, sondern nur an das verzweifelte Schreien von Janis Joplin, die das Lied bereits 1968 mit Big Brother and the Holding Company neu aufnahm.
»Break another little piece of my heart now, baby«, schreit Joplin mit heiserer Stimme ins Mikrofon – und fast meint man, neben dem treibenden Bass und dem akzentuierenden Schlagzeug auch die halb volle Flasche Southern Comfort zu hören, die gegen den Mikrofonständer schlägt. Die Worte mögen zwar nicht ihre eigenen sein – tatsächlich hat auch Erma Franklin das Lied nicht selbst geschrieben –, aber der Schmerz klingt so durchdringend aus jeder Zeile hinaus, dass kein Zweifel daran besteht, dass er echt ist. Dass sie jedes Wort fühlt. »You know you got it if it makes you feel good.«
»Nimm noch ein kleines Stückchen mehr von meinem Herzen«, denke auch ich heute morgen, »es ist egal, wie schlecht es mir damit geht oder wie viele Stücke zuvor schon herausgebrochen worden sind, wichtig ist allein, dass es dir gut damit geht«. Nachdem unsere sechs Welpen am vergangenen Dienstag geimpft worden sind, fehlt nur noch die zweite Wurfabnahme, damit die ersten sich auf den Weg in ihr neues Zuhause machen können. Während es mir bis zu diesem Zeitpunkt zumeist gut gelingt, den Gedanken an den Abschied weit von mir weg zu schieben, ist danach auch die letzte Barriere durchbrochen. Ich möchte damit nicht sagen, dass ich unentwegt heule. Das könnte ich mir nicht erlauben. Aber ich könnte. Weil man tatsächlich jedem Welpen ein Stück seines Herzens schenkt – und das eben nicht nur schön und besonders ist, sondern auch beschissen weh tun kann. »You know you got it, child, if it makes you feel good.« Vielleicht bin ich als Züchter deshalb ein klein wenig wie Erma Franklin. Die erste Stimme. Die erste Hand. Das erste Herz, das gebrochen worden ist.
Auch, wenn sich am Ende vielleicht keiner mehr daran erinnert. Als Züchter tut man es trotzdem immer wieder.
Paint it Black
Vor einigen Wochen, wenige Tage nach der Geburt. Wie auch schon bei unseren vorangegangenen Würfen, habe ich auch bei diesem frühzeitig Susanne angeschrieben, um mit ihr über die Halsbänder und Leinen zu sprechen, die unseren Welpen bei der Abgabe mitgegeben werden sollen. »Ich habe an Paisley gedacht«, schreibe ich ihr, »an Paisley und einen Peace-Anhänger, weil beides am besten zu den Namen der Welpen passt«. Das für mich alles zueinander passen muss, sich jedes Detail harmonisch ins Gesamtbild einzufügen hat, ist mir bei diesem Wurf vielleicht noch ein wenig deutlicher geworden, als bei den Vorangegangenen. Die Déformation professionnelle und die damit verbundenen Zwänge lassen sich wohl bei keinem Designer auf die Dauer leugnen. Und deshalb werden auch im Privaten die gleichen Techniken angewandt, wie im Beruflichen – wird konzeptioniell gedacht, und nichts dem Zufall überlassen. »Hast du vielleicht eine passende Borte da?«
Die beiden Borten, die Susanne mir schickt, sind hübsch, passen aber nicht. Zwei Tage verbringen daraufhin damit, die verschiedensten Angebote zu vergleichen. Mal ist die Borte zu breit, mal sind die Lieferzeiten zu lang, mal nur noch ein Reststück vorhanden, das kaum für sechs Halsbänder reicht. Zwischenzeitlich bin ich beinahe schon bereit, mich mit Susanne auf ein nachtschwarzes Halsband zu einigen, bis sie schließlich darauf hinweist, dass sich das goldene Stickmuster mit dem silbernen Anhänger beißt, und alles von vorne beginnt.
Als ich kaum eine Woche später die fertigen Halsbänder in den Händen halte, bin ich mehr als zufrieden. Nicht nur, weil die Nähte sauber sind, oder weil die ausgewählte Borte ganz hervorragend mit dem darunterliegenden Gurtband harmoniert, sondern weil in jedem Halsband ein wenig Peace, Love, Freedom und Happiness steckt. Das passt, man muss nur hinsehen. Und das gilt auch für die Welpen.
The Times They Are a-Changin’
Der Rassestandard des Border Collie lässt sich mit nur einem einzigen Wort zusammenfassen. Gemäßigt, das verrät ein Blick in jedes beliebige Wörterbuch, lässt sich als das Fehlen von Extremen übersetzen. Nichts geht ins Übertriebene, die Maßverhältnisse sind ausgewogen – der Hund befindet sich im perfekten Gleichgewicht. In einem Zustand geistiger und körperlicher Leistungsfähigkeit, der es ihm auch langfristig erlaubt, sich an verschiedenste Umweltsituationen anzupassen.
Die Grundvoraussetzung für diese Anpassungsfähigkeit sind funktionierende Strukturen – Nerven und Sehnen, Knochen und Gelenke –, die einen gesunden Bewegungsablauf erlauben. Jede Abweichung stört denselben, stört das Gleichgewicht. Das sollten sich nicht nur Züchter und Zuchtrichter immer wieder vor Augen führen, sondern sollte auch im Hundesport viel mehr Beachtung finden. Wo sich das Gleichgewicht nämlich verschiebt – und Ähnliches lässt sich eben nicht nur auf Ausstellungen, sondern beispielsweise auch im Agility beobachten, bei dem sich das Gleichgewicht von Geschicklichkeit und Geschwindigkeit in den vergangenen Jahren mehr und mehr zugunsten der Geschwindigkeit verschoben hat –, werden Extreme gefördert. Wo man als Züchter meint, die Rasse an die veränderten Bedingungen anpassen zu müssen – auch das gilt gleichermaßen für das Ausstellungswesen, wie auch den Sport –, kann man nur scheitern.
Als Züchter tut man also immer gut daran, sich um Ausgleich zu bemühen. Das bedeutet nicht nur, einen möglichst ungeschönten Blick auf die eigenen Zuchthunde zu werfen und die Wurfplanung dementsprechend abzustimmen, sondern auch, jeden Wurf möglichst gründlich zu evaluieren. Im Hinblick auf die Gesundheit. Im Hinblick auf das Wesen und die Arbeitseigenschaften. Im Hinblick auf den Standard, nicht zuletzt. »The slow one now will later be fast«, hat Bob Dylan 1964 in seiner Hymne auf den gesellschaftlichen Wandel gesungen. Ich denke, damit ist alles gesagt.
© Johannes Willwacher