Statt umzublättern: Zurückblicken, Verweilen und Innehalten – unserer Nell zu ihrem fünfzehnten Geburtstag.
Life is a strange thing.
Just when you think you know
how to use it is gone.
Shakespears Sister (1992)
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie viele Ihrer möglichen Leben Sie bereits gelebt haben? Und wie viele Ihrer zukünftigen Ichs noch darauf warten, gelebt zu werden? Zweifelsohne würden wir niemals umblättern, wenn wir das Drehbuch der Zukunft lesen könnten. Wenn feststünde, dass die Zahl der zukünftigen Ichs nicht annähernd so groß ist, wie wir es uns wünschen würden, und die Existenz von allen bereits gelebten – dem zweijährigen Ich, das die Vertikale meistert, dem zwölfjährigen Ich, das die Schule schwänzt, dem sechzehnjährigen Ich, dem sich die erste Ahnung von Liebe offenbart, oder dem zwanzigjährigen Ich, das zu verstehen beginnt, was Freiheit ist – auf Seite 64 endet.
Nichts mehr mit den Reisen, die sich ein jüngeres Ich einmal vorgenommen hat. Nichts mehr mit dem großen Roman, den zu schreiben ein anderes Ich nie die Zeit finden konnte. Nichts mehr mit den Geschichten, die ein zukünftiges Ich noch mit Leben füllen sollte. Bloß weißes Papier, und darauf vier Buchstaben: Ende. Sie wissen schon.
Während ich das schreibe, streift mein Blick immer wieder die schlafende Hündin, die lang ausgestreckt im Durchgang vom Flur zum Esszimmer liegt. Heute wird sie fünfzehn Jahre alt. Unter meinem Blick hat sie all ihre möglichen Ichs durchlebt. Sie war der Welpe, den ich mit zehn Tagen zum ersten Mal in den Händen hielt. Sie war der Junghund, den ich mit zittrigen Händen zum ersten Mal ausstellte. Sie war die Hündin, die ganz ohne mein Zutun ihren ersten Welpen gebar. Sie war die Mutter von vielen, die Großmutter von so vielen weiteren. Sie war Nell. Sie ist Nell. Sie ist – mit jedem ihrer Ichs – immer Nell geblieben.
Das Leben ist eine seltsame Sache. Gerade wenn wir denken, zu wissen, wie es zu nutzen ist, ist es vorbei. Ein Hund, dem wir beim Altern zuschauen, macht uns das immer wieder schmerzlich bewusst. Vielleicht tut es aber auch genau deshalb so gut, langsamer zu machen, stehen zu bleiben, aufeinander zu warten – ganz bewusst einen Fuß vor den anderen zu setzen. Weil der Weg, den wir alleine weiter gehen müssen, lang sein wird. Und weil jeder Augenblick – jedes Zurückblicken, Verweilen und Innehalten – mit der Dankbarkeit für so viele andere, längst verstrichene Augenblicke eine noch größere Bedeutung bekommt.
Herzlichen Glückwunsch zum 15. Geburtstag, liebe Nell. Das ist dein Augenblick. Für immer.
© Johannes Willwacher