Eine Fabel – für unsere Heidi zu ihrem fünften Geburtstag: ein Versuch über das Hören, das Sagen und das Hörensagen. Und die Wahrheit, irgendwo dazwischen.

Die Hün­din hat­te im Gar­ten ein Eich­hörn­chen auf­ge­scheucht und es im wil­den Lauf bis zu einem hohen Baum ver­folgt, in des­sen Kro­ne es nun auf einem dün­nen Zweig thron­te. Mit hoch erho­be­ner Rute stand die Hün­din dar­un­ter, den Blick fest auf das rot­brau­ne Tier gerich­tet, und wäh­rend sie unge­dul­dig von dem einen auf das ande­re Bein trat, trau­te sich das Eich­hörn­chen kaum, sich zu bewe­gen. Nach einer Wei­le hob die Hün­din an zu spre­chen: »Komm doch her­un­ter, klei­ner Freund, zwi­schen all den krum­men Ästen ist es kaum mög­lich, dich zu erken­nen«. Keckernd schall­te es aus der Baum­kro­ne zurück: »Damit du mich packen und zer­fet­zen kannst? Ich sehe doch, wie dir schon der Gei­fer aus der Schnau­ze rinnt!« Die Hün­din leck­te sich die Lef­zen. »Woher willst du das wis­sen«, sag­te sie zu dem Eich­hörn­chen, »schließ­lich kennst du mich doch gar nicht!« Das Eich­hörn­chen woll­te gera­de erwi­dern, dass unter sei­nes­glei­chen jeder wis­se, was von den Hun­den zu hal­ten sei, als ihm die Hün­din ins Wort fiel: »Wenn du die Wahr­heit her­aus­fin­den willst, musst du schon von dei­nem beque­men Ast her­un­ter kom­men!« Das Eich­hörn­chen schüt­tel­te nach­drück­lich den Kopf.

»Es kommt gar nicht so sehr dar­auf an, wer am ehes­ten die Wahr­heit spricht, son­dern viel eher, wes­sen Wahr­hei­ten man am ehes­ten bereit ist, Glau­ben zu schen­ken«, sag­te die Hün­din. »Wäh­rend der Mensch, der dort drü­ben vor dem Haus steht und nach mir ruft, mir unter­stellt, dumm, trä­ge und undank­bar zu sein, bloß weil ich sei­nem Rufen nicht fol­ge, wirst du viel­leicht zu einer ganz ande­ren Ein­sicht gelan­gen, und den übri­gen Eich­hörn­chen davon erzäh­len«. Das ange­spro­che­ne Tier ließ den Zweig los, den es fest umklam­mert gehal­ten hat­te, und reck­te die kral­len­be­währ­ten Pfo­ten dro­hend über den Kopf: »Gemein und arg­lis­tig seid ihr Hun­de, genau das wer­de ich erzäh­len«. Die Hün­din trat einen Schritt von dem Baum zurück, ohne das Tier im Geäst aus den Augen zu las­sen. »Dei­nes­glei­chen treibt die Angst und den Men­schen adelt sei­ne Mei­nung«, sag­te sie ernst. »In der Welt bestehen also zwei Wahr­hei­ten, die glei­cher­ma­ßen falsch und rich­tig sind«, fuhr die Hün­din fort, »und für bei­de ent­schei­det allein der Stand­punkt, wie rich­tig oder wie falsch sie sind«. 

Eine Wind­böe fuhr durch das Geäst und brach­te unab­wend­bar auch den Zweig zum Schwan­ken, auf dem das Eich­hörn­chen saß. Mit zit­tern­den Glied­ma­ßen press­te es den dün­nen Leib gegen den Zweig, und erst, als der Wind end­lich nach­ge­las­sen hat­te, fand es den Mut, die Rede der Hün­din zu erwi­dern. Es woll­te gera­de zu spre­chen anhe­ben, als die Hün­din ihm erneut zuvor­kam. »Nun ist es aber so, dass es zwi­schen bei­den Wahr­hei­ten auch noch eine drit­te geben mag«, sag­te die­se und kniff die Augen fes­ter zusam­men, »eine, die nicht auf den Beob­ach­tun­gen der Eich­hörn­chen oder den Zuschrei­bun­gen der Men­schen beruht, son­dern allei­ne in sich selbst besteht«. Das Eich­hörn­chen schüt­tel­te den Kopf: »Wie glaub­wür­dig und ver­läss­lich kann denn eine Wahr­heit sein, die allei­ne in sich selbst besteht? Du denkst, du kannst mir viel erzäh­len!« Die Hün­din lach­te. »Genau das ist ja der Haken«, gab sie zurück, »denn wäh­rend der Umstand, dass es mir viel­leicht bloß gefällt, mich mit dei­nes­glei­chen zu unter­hal­ten, viel eher der Wahr­heit ent­spricht, als das, was Men­schen und Eich­hörn­chen von mir sagen, wird das am Ende doch nie­mand glau­ben«. Und damit wand­te sie sich um und trab­te mit wohl gesetz­ten Schrit­ten zurück zum Haus. 

Und die Moral, das lässt sich sagen: Wer wis­sen will, war­um der Hund bellt, der muss beim Hund nach­fra­gen.

© Johannes Willwacher