Frühlingsgefühle – und ganz viel Natur: über läufige Hündinnen, tanzende Rüden und die Aufgaben, die jeder im Rudel übernimmt.
Am Rande eines großen, dunklen Waldes lebte ein Wolfsrudel. Zu dem Wolfsrüden und der Fähe, die einander treu verbunden waren, gesellte sich in jedem Jahr ein Wurf von sechs bis acht Welpen, von denen aber selten mehr als die Hälfte das erste Jahr überlebte. So kam es, dass in diesem Jahr bloß drei Jährlinge zu dem Wolfsrudel gehörten: ein junger Rüde, der es kaum erwarten konnte, der elterlichen Fürsorge zu entfliehen und sich auf Wanderschaft zu begeben, sowie zwei junge Wolfsfähen, die man schwerlich alleine antreffen konnte – eine, wie der Schatten der anderen. Als die Fähe im Frühjahr nun endlich ihren nächsten Wurf geboren hatte – in einem schmalen Erdloch, das sich zwischen den steil aufragenden Wurzeln einer umgestürzten Eiche befand –, und sich die kaum drei Wochen alten Welpen anschickten, den duftenden Waldboden jenseits der Höhle zu erkunden, machte sich auch bei den beiden einjährigen Fähen ein Wandel bemerkbar. Ganz ohne jemals selbst Mutter gewesen zu sein, wuchsen beide nämlich zusehends in die Mutterrolle hinein – und wenn die Welpen trinken wollten, dann tranken sie ganz selbstverständlich auch bei ihnen. »Damit die Welpen überleben können«, hatte die alte Fähe gesagt und dabei ein halb zerkautes Wiesel hervorgewürgt, das von den Welpen sogleich wieder zerrissen und verschlungen wurde, »muss jeder mithelfen«. Also ließen es sich dieselben auch bei ihren älteren Schwestern schmecken, wenn die Mutter sich auf der Jagd befand. Und weit bis in den Herbst hinein waren alle satt.
»Man kann also nicht gerade behaupten, die Natur habe sich nichts dabei gedacht«, sage ich zu Dirk, als ich zu Ende erzählt habe. Während Dirk noch zu überlegen scheint, was er darauf erwidern soll, werfe ich einen Blick über meine Schulter und kann gerade noch den umgestürzten Baum entdecken, den wir vor kaum fünf Minuten passiert haben, bevor er hinter der Wegbiegung verschwindet. »Das heißt also, dass eine Scheinträchtigkeit in einem Wolfsrudel immer einen Zweck erfüllt?«, will Dirk schließlich wissen. »Im Gegensatz zu einem Hunderudel, in dem die Zyklen der Hündinnen in den seltensten Fällen synchron verlaufen, hat die Natur bei freilebenden Wölfen ziemlich gut vorgesorgt«, antworte ich, »wenn das Nahrungsangebot nicht ausreicht oder die Fähe zu wenig Milch hat, um die Welpen zu versorgen, können so auch die jungen Wölfinnen einspringen und die Welpen säugen«. Dirk nickt: »Ammenaufzucht, sozusagen«. »Genau das«, gebe ich zurück, um schließlich noch hinzuzufügen, dass der Bedarf bei unseren Haushunden nur in den seltensten Fällen gegeben ist. »Weil aber jede Hündin nach der Läufigkeit hormonell die gleichen Prozesse durchläuft, wie eine tragende Hündin, und es zum biologisch vorgesehenen Geburtstermin gleichzeitig zu einem Abfall von Progesteron und zu einem Ansteigen von Prolaktin kommt – eben jenem Hormon, das für die Milchbildung verantwortlich ist –, schießt bei manchen trotzdem die Milch ein«. Für einen Moment bin ich mir unsicher, ob Dirk während meiner Ausführungen nicht gedanklich abgeschweift ist, und habe Mühe, seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Dann schüttelt er aber den Kopf: »Und warum hatten wir das dann bislang noch nie?« Ich zucke die Achseln: »Vielleicht, weil Halo gerne einmal die Erste sein wollte«. Und weil damit alles gesagt ist, gehen wir schweigend weiter.
Körbchengröße 75 Aua
Zuhause beginne ich aber erneut zu überlegen. »Halo ist im Dezember zum ersten Mal läufig gewesen, bei einer Trächtigkeit hätten die Welpen also etwa Anfang März geboren werden müssen«, sage ich laut vor mich hin. Während ich an ihrem Verhalten in den vergangenen Wochen zwar nicht die typischen Veränderungen einer scheinträchtigen Hündin ablesen konnte – weder hatte sie Spielzeug gehortet, noch sich träge vom Rudelleben zurückgezogen –, hatte ich zur Monatsmitte hin doch bemerkt, dass ihr Gesäuge angeschwollen war. Bedenklich fand ich das aber erst einmal nicht – zumeist bilden sich die Milchdrüsen innerhalb weniger Tage von ganz alleine zurück –, bedenklich fand ich das erst, als dieselben plötzlich heiß, geschwollen und gerötet erschienen, und sich rund um die betroffenen Zitzen ein blutiges Milchsekret bemerken ließ: »Das sieht mir doch sehr nach einer beginnenden Mastitis aus«. Der Tierarzt, dem ich Halo noch am selben Tag zur Untersuchung vorstellte, sah das genauso, verordnete ein Antibiotikum sowie eine desinfizierende Salbe, und bat mich, die Hündin alsbald erneut vorzustellen. »Achten Sie darauf, dass die Hündin das Gesäuge nicht beleckt, um den Druckschmerz zu lindern«, hatte der Tierarzt abschließend gesagt, »dadurch wird die Milchbildung nur noch weiter angeregt und der Milchstau immer ausgeprägter«. Weshalb sich an das kurze Selbstgespräch nach dem morgendlichen Spaziergang auch heute der Griff in den Wäscheschrank anschließt – und Halo rundherum in bunt bedruckte Baumwolle verpackt wird. »Frühlingsfrisch«, meint dieselbe und verzieht die Nase.
Dass auch bei Fate längst der Frühling eingezogen ist, offenbart sich kurz darauf. Mit stolz präsentierter Brust und weit aufgerissenen Augen tanzt Zion nämlich um die einjährige Border Collie Hündin herum, die Ohren sind genauso steil aufgerichtet, wie die beständig wedelnde Rute. Dass die Hündin herzlich wenig von den Annäherungsversuchen des schwarz-weißen Rüden hält und jedes Mal die Lefzen kräuselt, sobald er sich anschickt, mit der Schnauze oder den Pfoten zu ihr durchzudringen, stört den Rüden nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil, scheint es ihn nur noch zusätzlich anzuspornen, je garstiger sie sich ihm gegenüber zeigt. Auf jede Zurechtweisung der Hündin folgen deshalb nur noch heißere Liebesschwüre, wissen weder Ohren, noch Rute bald schon nicht mehr, wie weit sie sich noch verdrehen sollen, ist der Rüde ein einziges tanzendes Fragezeichen. Dass die Hündin es trotz alledem genießt, Kontrolle über den Rüden auszuüben, und ihn vielmehr vor sich her treibt, als sich eingeschüchtert zurückzuziehen, lässt mich laut auflachen: »Warum wundert es mich nicht, wie sehr dir das taugt?« Dirk, der gerade im Begriff ist, den vollbepackten Wäscheständer aus der Waschküche zu bugsieren, merkt kurz auf: »Meinst du mich?« Ich schüttle den Kopf: »Nur dann, wenn auch bei dir eine läufige Hündin genügt, um Frühlingsgefühle sprießen zu lassen«. Zur Antwort drückt er mir eine Wäschklammer in die Hand: »In einem Wolfsrudel muss jeder mithelfen«.
© Johannes Willwacher