Die neunte Trächtigkeitswoche: ganz schön viel Wunschdenken in den letzten Tagen vor der Geburt unserer Border Collie Welpen.
I’ll pretend my ship’s not sinking.
Go West (1990)
Los Angeles, irgendwo auf dem Hollywood Boulevard. Der vierunddreißigjährige Peter Cox sitzt auf einem Barhocker und lässt gelangweilt die Olive in seinem Martini kreisen. Wenn es nach der Plattenfirma ginge, die ihm im Nacken sitzt – seit 1986 haben er und Richard keinen nennenswerten Charterfolg mehr vorweisen können –, sollte er sich längst wieder an die Arbeit gemacht haben. Stattdessen sind sie nun aber mit einigen Musikern in dieser Bar versackt. Nach dem Gelächter in seinem Rücken zu urteilen, scheint Richard sich dabei ganz großartig zu amüsieren. Die halbe Geschichte der Band hat er schon vor den Musikern ausgebreitet, und gerade ist er bei der Entscheidung der Plattenfirma angelangt, sie ins Exil zu schicken. »Nach einem Streit mit dem Label saßen wir im Limbus fest«, sagt er. »Nach Monaten des Wartens und Grübelns rief schließlich doch noch jemand an, und meinte, dass man mit Martin Page gesprochen habe, der Hits für Heart und Starship geschieben hat. Was haben wir, die Könige des Wunschdenkens, also getan? Wir sind in London in den Flieger gestiegen, und hier sitzen wir nun.« Peter gefällt, was er gerade gehört hat. Die Könige des Wunschdenkens.
Ein silberner Lotus Esprit ruckelt durch die kurvigen Straßen der Hollywoood Hills. Die Kamera streift die meterhohen, weißen Buchstaben des Hollywood Signs, dann schraubt sie sich noch weiter in die Höhe, erlaubt einen Blick auf die pulsierende Stadt. Los Angeles ist ein Mosaik aus Licht und Schatten, aus Hoffnung und Verfall. Ein Fiebertraum. Die Kamera zoomt sich langsam auf den Hollywood Boulevard ein, nimmt erst die Drogenschäfte von zwei jugendlichen Skatern in den Fokus, bevor sie schließlich zu einer Prostituierten schwenkt, die im grellen gelben Top am Bordstein steht. »Hallo Süße, hast du Zeit?«, wird ihr von einem Mann zugerufen, der in einem vorbeifahrenden Wagen sitzt. Schnitt auf einen Stern des Hollywood Walk of Fame, der im Scheinwerferlicht aufblitzt, dann ein erneuter Schnitt auf einen Wagen, der am Bordstein hält. »Hast du Lust auf eine heiße Nacht?«, fragt eine farbige Prostituierte den Mann auf dem Beifahrersitz. Das Fenster ist heruntergelassen, sie lehnt sich vor und stützt sich mit verschränkten Armen darauf ab. Wieder ein Schnitt, heulende Sirenen. Die Kamera schwenkt an einem heruntergekommenen Gebäude empor, dann fährt sie lustvoll den Körper einer jungen Frau ab, die nur von hinten zu sehen ist. Dass dieselbe wie alle zuvor schon Gezeigten zu den Menschen gehört, die am Rand der Gesellschaft stehen, braucht keine Worte. Sie ist eine von ihnen. Mit den gleichen Wünschen, den gleichen Träumen. Allein, dass ihr Märchen wahr werden wird. Irgendwann.
Zehn Würfe haben wir in den vergangenen zwölf Jahren aufgezogen – und folglich auch zehn Geburten miterlebt. Wer glaubt, dass sich damit auch so etwas wie eine routinierte Gelassenheit eingestellt hat – man kennt schließlich die Handgriffe und weiß, was in welcher Situation zu tun ist –, der irrt allerdings. Warum? Weil es nie selbstverständlich ist, dass das Märchen am Ende wahr wird. Dass alles gut geht, die Geburt einfach verläuft und am Ende jeder den Welpen bekommt, den er sich gewünscht hat. Insbesondere die letzten Tage vor der Geburt sind deshalb immer wieder belastend. Aber warum sollte es dem Züchter auch so viel besser als der Hündin gehen?
Routiniert gehen also nur die letzten Vorbereitungen auf die bevorstehende Geburt vonstatten. Am Montagmorgen gehört neben der obligatorischen Temperaturkontrolle bei der Hündin das Herrichten des Wurfzimmers dazu. Die Welpenwaage wird abgewaschen und desinfiziert, gleiches passiert mit dem Absauger und der Nabelschere. Jod, Desinfektionsmittel und Zuckerpaste werden bereitgestellt, und die Handtücher und Laken, die sich in und um die Wurfkiste befinden sollen, noch ein letztes Mal ausgekocht.
Während die Temperatur der Hündin am Morgen bei noch unauffälligen 37,7 Grad liegt – etwa vierundzwanzig Stunden vor der Geburt kommt es zu einem Temperaturabfall auf unter 37 Grad, der durch das abrupte Absinken des Progesteronspiegels ausgelöst wird –, hat der nächtliche Regen das überhitzte Wurfzimmer unter dem Dach bereits merklich auskühlen lassen. Weil das Bad gleich nebenan liegt – und Fate es sich ohnehin im Durchgang zum Wurfzimmer bequem gemacht hat –, nutze ich die Gelegenheit, um ein letztes Mal mit ihr auf die Waage zu steigen. Das klingt viel leichter, als es ist – schließlich muss die zappelnde Hündin dazu im Arm gehalten werden. Nachdem wir beide uns aber eingeschaukelt haben, gelingt es mir doch, einen Blick auf die Digitalanzeige unter mir zu werfen, und mein Gewicht im Kopf vom Ergebnis abzuziehen. Dreiundzwanzig Kilogramm bleiben übrig. Das sind fast sechs Kilogramm mehr, als zu Beginn der Trächtigkeit.
Auch an den beiden darauffolgenden Tagen ist die Temperatur noch nicht gesunken. Ganz im Gegenteil, liegt sie am Morgen des sechzigsten und einundsechzigsten Trächtigkeitstages sogar noch geringfügig höher. »Das ist nicht ungewöhnlich«, denke ich bei mir, als ich das Fieberthermometer am Mittwochmorgen zurücklege, »bei den wenigsten unserer Hündinnen hat sich die Geburt vor dem einundsechzigsten Trächtigkeitstag angekündigt«. Weil sich daran auch im weiteren Tagesverlauf nichts ändert, darf Fate beide Tage noch ganz entspannt genießen. Beim Sonnenbaden im Garten. Beim Spaziergang auf dem Feld. Und selbstverständlich auch über dem Futternapf. Denn Hunger hat sie noch immer.
Die Nacht zum dreiundsechzigsten Trächtigkeitstag ist unruhig. Fate hechelt, scharrt und immer wieder werde ich von dem Kratzern und Poltern in der Wurfkiste geweckt. Was ich mir nachts schon denke, bestätigt sich schließlich auch am frühen Morgen. Die Temperatur fällt – um fünf Uhr zeigt das Fieberthermometer 36,7 Grad –, unsere Welpen machen sich bereit, um geboren zu werden. Ob es fünf, sechs, vielleicht acht Welpen werden? Ob für jeden der gewünschte Welpen dabei ist? Für heute bleibt das alles bloß Wunschdenken. Und wir? Die Könige, im Auftrag von.
© Johannes Willwacher