Keine Geburt ist wie die andere: über Hormone und Glücksgefühle – und sechs Border Collie Welpen, die in der letzten Nacht das Licht der Welt erblickt haben.

Mit einem Kli­cken been­det das 4-Spur-Gerät die Auf­nah­me und dIe Rol­len der Kas­set­te hören auf, sich zu dre­hen. Stim­men sind aus dem Unter­ge­schoss zu hören – sel­ten ist es ruhig in dem besetz­ten Haus in Ken­sal Green –, und kaum, dass er die Kas­set­te aus dem Gerät ent­nom­men hat, fliegt die Tür auf und zwei jun­ge Frau­en fal­len lachend her­ein. Der Geruch von Schweiß und bil­li­gem Par­füm, den bei­de mit­brin­gen – Patchouli, Moschus, viel­leicht auch San­del­holz –, brei­tet sich schnell im gan­zen Raum aus. Die Glück­ge­füh­le, die von der durch­tanz­ten Nacht übrig geblie­ben sind, schei­nen aus jeder ihrer Poren zu drin­gen. Wäh­rend die eine sich unge­lenk dar­an macht, sich das bunt gemus­ter­te Shirt über den Kopf zu zie­hen, berich­tet die ande­re von dem Rave auf der Tot­ten­ham Court Road und den Men­schen, die bis zum Son­nen­auf­gang vor dem Shoom tanz­ten. 

»Wir stan­den vor dem Domi­ni­on Theat­re, als die­ses Auto mit dröh­nen­den Laut­spre­chern vor­ge­fah­ren ist, und schlag­ar­tig war alles vol­ler Men­schen«, sagt sie und setzt die Son­nen­bril­le ab, »auf der Stra­ße, auf dem Dach der Bus­hal­te­stel­le, und alle schrien Street Par­ty und Acie­ed 

Er lächelt, das Gefühl kennt er gut. Streng genom­men han­delt auch das Lie­bes­lied, das auf der Kas­set­te zu hören ist, die er in sei­nen Hän­den hält, davon. Vier­zehn Spu­ren für Gesang und Orches­ter, die er sum­mend auf­ge­nom­men hat, und die ein biss­chen kleb­rig vom Glück erzäh­len. Vom Rausch, von der Lie­be. Von Acid, von Endor­phi­nen. »I compa­re you to a kiss from a rose on the gray«, hört er sich selbst in Gedan­ken sin­gen. »Ein biss­chen pein­lich, viel­leicht«, denkt er bei sich und wirft die Kas­set­te acht­los in eine der voll­ge­stopf­ten Kis­ten. Sechs Jah­re – bis 1994 – wird sie dort lie­gen bleiben.

Neugeborener Border Collie Welpe
27|07|2024 – Wel­pe No. 4, Hündin

Endor­phi­ne beglei­ten auch jede natür­li­che Geburt. Dass nicht nur, weil das neue Leben, das sich nach den lan­gen Wochen des War­tens end­lich sei­nen Weg in die­se Welt gebahnt hat, mit einem ganz beson­de­ren Glücks­ge­fühl ver­bun­den ist, son­dern auch, weil Endor­phi­ne wäh­rend des Gebäh­rens den Wehen­schmerz kom­pen­sie­ren. Sie sor­gen dafür, dass die Mut­ter die Geburt wie im Rausch erlebt. Auch das Frucht­was­ser rei­chert sich wäh­rend der Geburt stark mit Endor­phi­nen an, sodass das unge­bo­re­ne Leben durch den Schmerz der Mut­ter selbst vor Schmerz und Geburts­trau­ma geschützt wird: »Love remain­ed a drug that’s the high and not the pill.« 

Es ist elf Uhr am Abend. Eine kreis­run­de Lache auf dem Laken kün­digt den Ein­tritt in die Geburt an. Fast zwei Stun­den soll es aber noch brau­chen, bis der ers­te Wel­pe im Geburts­ka­nal liegt. Wäh­rend Fate sich von einer Wehe zur nächs­ten hechelt, wer­fen wir uns fra­ge­ne Bli­cke zu. »Sie müss­te stär­ker pres­sen«, sagt der eine. Der ande­re: »Die Abstän­de zwi­schen den Wehen sind noch immer zu groß«. Da es der Hün­din trotz aller Mühen nicht gelin­gen will, den Wel­pen her­aus zu beför­dern, beschlie­ßen wir kur­zer­hand, mit ihr in die Kli­nik zu fah­ren. »Ein Wel­pe, der den Geburts­weg blo­ckiert, kann schnell die gan­ze Geburt ins Sto­cken brin­gen«, sage ich, als wir uns im strö­men­den Regen auf den Weg nach Gie­ßen machen. Der frag­li­che Wel­pe – eine schwarz-wei­ße Hün­din – wird schließ­lich irgend­wann zwi­schen Kilo­me­ter eins und sieb­zig gebo­ren. Für den Wel­pen ist die Zeit den­noch zu lang gewor­den. Der Wel­pe ist tot.

Zeit, um um die hüb­sche Hün­din zu trau­ern, bleibt aber nicht. Kaum, dass wir das Kli­nik­ge­bäu­de betre­ten haben kün­digt sich schon die Geburt des nächs­ten Wel­pen an. Eine lack­schwar­ze Hün­din, die sich tap­fer ins Leben kämpft. Weil sich bereits abzeich­net, dass auch der drit­te Wel­pe nicht lan­ge auf sich war­ten las­sen wird – und wir nicht ris­kie­ren wol­len, dass die Geburt durch einen erneu­ten Orts­wech­sel wie­der ins Sto­cken kommt –, wird uns ein Raum zur Ver­fü­gung gestellt. In den fol­gen­den Stun­den erbli­cken dort fünf wei­te­re Wel­pen das Licht der Welt – zwei Hün­din­nen und drei Rüden. Da die Geburts­we­ge nach der schwie­ri­gen Geburt des ers­ten Wel­pen aus­rei­chend gewei­tet sind, gelingt das nun auch ohne Kom­pli­ka­tio­nen. Adre­na­lin und Cor­ti­sol wer­den im Lauf der lan­gen Nacht mit immer neu­en Endor­phi­nen über­schwemmt – und zu der Müdig­keit, die kei­ner der Betei­lig­ten wirk­lich ver­heh­len kann, gesellt sich end­lich auch ein über­wäl­ti­gen­des Glücks­ge­fühl: »And now that your rose is in bloom a light hits the gloom on the gray«.

02.30 Uhr – Hün­din, 410 Gramm (tot­ge­bo­ren)
02.45 Uhr – Wel­pe No. 1 – Hün­din, 404 Gramm
03.05 Uhr – Wel­pe No. 2 – Hün­din, 403 Gramm
04.10 Uhr – Wel­pe No. 3 – Rüde, 364 Gramm
04.50 Uhr – Wel­pe No. 4 – Hün­din, 352 Gramm
06.00 Uhr – Wel­pe No. 5 – Rüde, 350 Gramm
07.28 Uhr – Wel­pe No. 6 – Rüde, 410 Gramm


© Johannes Willwacher