Keine Geburt ist wie die andere: über Hormone und Glücksgefühle – und sechs Border Collie Welpen, die in der letzten Nacht das Licht der Welt erblickt haben.
Mit einem Klicken beendet das 4-Spur-Gerät die Aufnahme und dIe Rollen der Kassette hören auf, sich zu drehen. Stimmen sind aus dem Untergeschoss zu hören – selten ist es ruhig in dem besetzten Haus in Kensal Green –, und kaum, dass er die Kassette aus dem Gerät entnommen hat, fliegt die Tür auf und zwei junge Frauen fallen lachend herein. Der Geruch von Schweiß und billigem Parfüm, den beide mitbringen – Patchouli, Moschus, vielleicht auch Sandelholz –, breitet sich schnell im ganzen Raum aus. Die Glückgefühle, die von der durchtanzten Nacht übrig geblieben sind, scheinen aus jeder ihrer Poren zu dringen. Während die eine sich ungelenk daran macht, sich das bunt gemusterte Shirt über den Kopf zu ziehen, berichtet die andere von dem Rave auf der Tottenham Court Road und den Menschen, die bis zum Sonnenaufgang vor dem Shoom tanzten.
»Wir standen vor dem Dominion Theatre, als dieses Auto mit dröhnenden Lautsprechern vorgefahren ist, und schlagartig war alles voller Menschen«, sagt sie und setzt die Sonnenbrille ab, »auf der Straße, auf dem Dach der Bushaltestelle, und alle schrien Street Party und Acieed.«
Er lächelt, das Gefühl kennt er gut. Streng genommen handelt auch das Liebeslied, das auf der Kassette zu hören ist, die er in seinen Händen hält, davon. Vierzehn Spuren für Gesang und Orchester, die er summend aufgenommen hat, und die ein bisschen klebrig vom Glück erzählen. Vom Rausch, von der Liebe. Von Acid, von Endorphinen. »I compare you to a kiss from a rose on the gray«, hört er sich selbst in Gedanken singen. »Ein bisschen peinlich, vielleicht«, denkt er bei sich und wirft die Kassette achtlos in eine der vollgestopften Kisten. Sechs Jahre – bis 1994 – wird sie dort liegen bleiben.
Endorphine begleiten auch jede natürliche Geburt. Dass nicht nur, weil das neue Leben, das sich nach den langen Wochen des Wartens endlich seinen Weg in diese Welt gebahnt hat, mit einem ganz besonderen Glücksgefühl verbunden ist, sondern auch, weil Endorphine während des Gebährens den Wehenschmerz kompensieren. Sie sorgen dafür, dass die Mutter die Geburt wie im Rausch erlebt. Auch das Fruchtwasser reichert sich während der Geburt stark mit Endorphinen an, sodass das ungeborene Leben durch den Schmerz der Mutter selbst vor Schmerz und Geburtstrauma geschützt wird: »Love remained a drug that’s the high and not the pill.«
Es ist elf Uhr am Abend. Eine kreisrunde Lache auf dem Laken kündigt den Eintritt in die Geburt an. Fast zwei Stunden soll es aber noch brauchen, bis der erste Welpe im Geburtskanal liegt. Während Fate sich von einer Wehe zur nächsten hechelt, werfen wir uns fragene Blicke zu. »Sie müsste stärker pressen«, sagt der eine. Der andere: »Die Abstände zwischen den Wehen sind noch immer zu groß«. Da es der Hündin trotz aller Mühen nicht gelingen will, den Welpen heraus zu befördern, beschließen wir kurzerhand, mit ihr in die Klinik zu fahren. »Ein Welpe, der den Geburtsweg blockiert, kann schnell die ganze Geburt ins Stocken bringen«, sage ich, als wir uns im strömenden Regen auf den Weg nach Gießen machen. Der fragliche Welpe – eine schwarz-weiße Hündin – wird schließlich irgendwann zwischen Kilometer eins und siebzig geboren. Für den Welpen ist die Zeit dennoch zu lang geworden. Der Welpe ist tot.
Zeit, um um die hübsche Hündin zu trauern, bleibt aber nicht. Kaum, dass wir das Klinikgebäude betreten haben kündigt sich schon die Geburt des nächsten Welpen an. Eine lackschwarze Hündin, die sich tapfer ins Leben kämpft. Weil sich bereits abzeichnet, dass auch der dritte Welpe nicht lange auf sich warten lassen wird – und wir nicht riskieren wollen, dass die Geburt durch einen erneuten Ortswechsel wieder ins Stocken kommt –, wird uns ein Raum zur Verfügung gestellt. In den folgenden Stunden erblicken dort fünf weitere Welpen das Licht der Welt – zwei Hündinnen und drei Rüden. Da die Geburtswege nach der schwierigen Geburt des ersten Welpen ausreichend geweitet sind, gelingt das nun auch ohne Komplikationen. Adrenalin und Cortisol werden im Lauf der langen Nacht mit immer neuen Endorphinen überschwemmt – und zu der Müdigkeit, die keiner der Beteiligten wirklich verhehlen kann, gesellt sich endlich auch ein überwältigendes Glücksgefühl: »And now that your rose is in bloom a light hits the gloom on the gray«.
02.30 Uhr – Hündin, 410 Gramm (totgeboren)
02.45 Uhr – Welpe No. 1 – Hündin, 404 Gramm
03.05 Uhr – Welpe No. 2 – Hündin, 403 Gramm
04.10 Uhr – Welpe No. 3 – Rüde, 364 Gramm
04.50 Uhr – Welpe No. 4 – Hündin, 352 Gramm
06.00 Uhr – Welpe No. 5 – Rüde, 350 Gramm
07.28 Uhr – Welpe No. 6 – Rüde, 410 Gramm
© Johannes Willwacher