Zwei Erfolgsgeschichten mit bitterem Beigeschmack: warum Erfolg nur wenige glücklich macht und Liebe allein am Ende doch nicht genügt.

Ich weiß nicht, wie oft mir die Leser*innen unse­rer Wurf­ta­ge­bü­cher schon den Vor­schlag gemacht haben, ein Buch zu schrei­ben. Was ich weiß ist aber, dass ich bei­na­he bei jedem unse­rer vor­an­ge­gan­ge­nen Wür­fe mit einem begon­nen habe und zahl­lo­se ange­fan­ge­ne Manu­skrip­te in mei­nen Schreib­tisch­schub­la­den lie­gen. Maß­geb­lich ist das wohl dem Umstand geschul­det, dass die Wel­pen in den ers­ten acht Lebens­wo­chen einen Groß­teil des Tages mit Schla­fen ver­brin­gen, und man als Züch­ter ziem­lich taten­los dane­ben sitzt, wenn nicht gera­de das Wel­pen­zim­mer geputzt oder die Wäsche auf­ge­hängt wer­den will. Bei die­sem Wurf habe ich also auch wie­der neben dem Wel­pen­aus­lauf im Gar­ten geses­sen, einen stock­fle­cki­gen Blind­band auf den Knien, und ein Wort nach dem ande­ren hin­ein gekrit­zelt. Auf den Vor­schlag, doch ein­mal ein Buch zu schrei­ben, kann ich also ent­geg­nen: näher, als mit dem Fol­gen­den, kom­me ich der­zeit nicht dran.

Border Collie Welpe, 4 Wochen alt
15|08|2022 – Hün­din No. 1

New York City, 1964

Sei­ne Kof­fer stan­den vor der Tür. »Wor­te sind zu banal«, hat­te Ells­worth ihm in einem hit­zi­gen Wort­ge­fecht ent­ge­gen­ge­schleu­dert, bevor er ihm die Tür vor der Nase zuge­schla­gen hat­te, »Wor­te ste­hen allem ent­ge­gen, was Kunst heu­te noch sein will«. Damit war nicht nur die Dis­kus­si­on been­det, son­dern auch die Bezie­hung, die Ells­worth und Robert geführt hat­ten, seit Letz­te­rer vor acht Jah­ren in das glei­che, bau­fäl­li­ge Loft in Lower Man­hat­tan ein­ge­zo­gen war. Der Schlag, mit dem sich die Tür geschlos­sen hat­te, hall­te noch durch das hohe, weiß getünch­te Trep­pen­haus nach, als Robert einen der unschein­ba­ren, brau­nen Leder­kof­fer am Griff fass­te, und sich – noch unschlüs­sig, bei wel­chem befreun­de­ten Künst­ler er vor­über­ge­hend unter­kom­men kön­ne – dar­an mach­te, das Gebäu­de zu ver­las­sen. Eine Rück­kehr zu Ells­worth war aus­ge­schlos­sen – das hat­te ihm die­ser mehr als deut­lich gemacht –, und auch, wenn er frag­los zurück­keh­ren muss­te, um die Bil­der und Mal­uten­si­li­en abzu­ho­len, die noch in den Räu­men lager­ten, war er sich sicher, Ells­worth dort nicht mehr anzu­tref­fen. Er stieg also die Trep­pen hin­un­ter, zog das schwe­re Roll­tor im Ein­gangs­be­reich auf und trat auf die Water Street hin­aus. 

Die Brook­lyn Bridge, die sich im früh­mor­gend­li­chen Dunst über der gegen­über­lie­gen­den Häu­ser­zei­le abzeich­ne­te, war unver­än­dert, blick­te unbe­ein­druckt auf ihn hin­ab. »Klein und unbe­deu­tend«, dach­te Robert – weni­ger, um sich selbst zu beschrei­ben, mehr, um die Wor­te nach­klin­gen zu las­sen, mit denen Ells­worth sei­ne neu­es­ten Wer­ke beschrie­ben hat­te. »Das ist nicht Hard Edge, das ist volks­tü­meln­der Blöd­sinn, den du mit mei­nen Far­ben über­zo­gen hast!« Sei­ne Far­ben. Ihm blie­ben nur die Wor­te. Und auch, wenn er gera­de kei­ne fand, reif­te auf dem Weg, der ihn weg vom Coen­ties Slip in ein nahe­ge­le­ge­nes Diner führ­te, ein Gedicht in ihm her­an, das er has­tig auf einer Papier­ser­vi­et­te notier­te. »My love, my love ist gone to you«, las sich die ers­te Zei­le auf dem fle­cki­gen Papier. »Lie­be«, dach­te Robert, und krit­zel­te vier Buch­sta­ben dar­un­ter, »L-O-V-E«. So klein und unbe­deu­tend. Und doch so groß.

Border Collie Welpe, 4 Wochen alt
15|08|2022 – Hün­din No. 2

Zentralasiatische Steppe, 15.000 v. Chr.

Seit vie­len Näch­ten schon konn­te man die Wöl­fe in der Wei­te heu­len hören. Wenn Puk im Mond­licht vor einer der mit Tier­häu­ten bespann­ten Behau­sun­gen saß, die ihm und sei­ner Sip­pe in die­sem Som­mer als Wohn­statt dien­ten, schien das wil­de Geheul so nah, dass er bei­na­he erwar­te­te, eines der grau­en Tie­re aus dem Dun­kel auf­tau­chen zu sehen. Gom, der eine Ket­te aus aus­geb­li­che­nen Kno­chen um sei­nen brei­ten, son­nen­ver­brann­ten Nacken trug, hat­te vor vie­len Mon­den in hel­ler Auf­re­gung berich­tet, dass er einen der klei­ne­ren Wöl­fe dabei beob­ach­tet hat­te, wie er sich durch den Unrat auf der Hal­de wühl­te. »Einen lan­gen Bein­kno­chen hat er schließ­lich davon getra­gen«, hat­te Gom gesagt, unschlüs­sig, ob es sich dabei um die Über­res­te des brau­nen Bocks gehan­delt hat­te, den die Män­ner auf der Jagd erlegt hat­ten, oder ob es die alte Reh­kuh war, deren Fleisch – trotz aller Kräu­ter, mit denen die Frau­en es zuvor ein­ge­rie­ben hat­ten – scheuß­lich geschmeckt hat­te. »Wenn wir nicht auf­pas­sen, dann trägt das Scheu­sal beim nächs­ten Mal eines der Kin­der davon«, hat­te Gom sei­ne auf­ge­reg­te Rede geschlos­sen. Beschlos­sen hat­te die Sip­pe den­noch nichts – und des­halb war es Puk auch noch ver­gönnt, allei­ne im Mond­licht am Feu­er zu sitzen.

Wie vie­le Näch­te Puk schon dort geses­sen, in den stern­kla­ren Him­mel geblickt oder gedan­ken­ver­lo­ren mit einer dün­nen Wei­den­ru­te in der Glut gesto­chert hat­te, konn­te er nicht sagen. Im Gegen­satz dazu wuss­te er aber sehr genau, dass der Wolf, den er mit eige­nen Augen zu schau­en gehofft hat­te, sich nicht hat­te bli­cken las­sen. Das Feu­er war bei­na­he schon her­un­ter­ge­brannt und der Wind, der unent­wegt über die wei­te Step­pe blies, hat­te zuge­nom­men, als er ent­schied, es für die­se Nacht gut sein zu las­sen. Zärt­lich tät­schel­te er den schwe­ren Knüp­pel, den er gewis­sen­haft bereit­ge­legt hat­te, um sich vor einem Angriff der Wöl­fe zu schüt­zen, erhob sich und strich das Bären­fell glatt, das um sei­ne Schul­tern hing. Er woll­te sich gera­de anschi­cken, das gefloch­te­ne Seil zu lösen, mit dem der Ein­gang der Behau­sung gesi­chert war, als er ein Kna­cken aus der Dun­kel­heit ver­nahm. Erschro­cken fuhr er her­um, wis­send, sei­nen Mut zusam­men mit dem stol­zen Knüp­pel an der Feu­er­stel­le zurück­ge­las­sen zu haben, und erwar­te­te schon, die gefletsch­ten Zäh­ne eines grau­en Wolfs zu erbli­cken, die ihn an der Keh­le packen und fort schlei­fen wür­den. Doch statt­des­sen sah er: nichts. Bloß Schwär­ze, die gleich hin­ter der ver­lö­schen­den Glut des Feu­ers ein­setz­te. So tief und dun­kel, dass sie auch die Hal­de ver­schluck­te, die sich in eini­ger Ent­fer­nung hin­ter einem hohen Fel­sen befand. »War das Geräusch von dort gekom­men?«, frag­te sich Puk, nun schon weit weni­ger ängst­lich, viel eher wild ent­schlos­sen, dem nach­zu­ge­hen. Lei­se schlich er also zu der Feu­er­stel­le zurück, nahm den Knüp­pel vom Boden auf und mach­te sich dar­an, nachzusehen.

Puk erblick­te sie zuerst, als er einen Mond spä­ter gemein­sam mit Gom und dem alten Tuk auf dem hohen Fel­sen über der Hal­de saß. Im letz­ten Licht der Däm­me­rung näher­ten sich drei Wöl­fe über die Ebe­ne. Drei, auf die wei­te­re fol­gen soll­ten. Puk lös­te den Rie­men, der das Bären­fell auf sei­ner Brust zusam­men­hielt, ließ die Hand dar­un­ter glei­ten und zog ein tro­cke­nes Stück Fleisch her­vor, das er dort auf­be­wahrt hat­te. Als die Wöl­fe schließ­lich den Fel­sen umring­ten – ihr Anblick längst nicht mehr scheuß­lich, bei­na­he schon ver­traut – warf er das Fleisch joh­lend hin­un­ter. »Wer weiß, wozu das noch gut ist«, dach­te er.

Border Collie Welpe, 4 Wochen alt
15|08|2022 – Hün­din No. 3

New York City, 1965

Barr wuss­te nicht, wann er India­na zuletzt gespro­chen hat­te. Die Bespre­chung einer Aus­stel­lung, an der India­na mit eini­gen neu­en Bil­dern teil­ge­nom­men hat­te, kam ihm in den Sinn – vor einem guten hal­ben Jahr moch­te das gewe­sen sein –, viel mehr, als dass die­ser betei­ligt gewe­sen war, hat­te der Kri­ti­ker der Times aber nicht zu berich­ten gewusst. Das letz­te Lebens­zei­chen – eine Weih­nachts­kar­te, die der Künst­ler im Jahr zuvor an Freun­de und Bekann­te ver­schickt hat­te – lag noch län­ger zurück. 

Weil es Barr in die­sem Jahr zuge­fal­len war, das Motiv der Weih­nachts­kar­te des Muse­um of Modern Art aus­zu­wäh­len – immer­hin das hat­te man ihm noch zuge­stan­den, nach­dem man ihn als Direk­tor des Muse­ums von all sei­nen Funk­tio­nen ent­bun­den und zum wis­sen­schaft­li­chen Bera­ter degra­diert hat­te –, hat­te er sich an die besag­te Kar­te erin­nert. For­mal war die­se nichts Beson­de­res, eine unge­len­ke, bei­na­he will­kür­lich anmu­ten­de Schraf­fur, die aus den umge­ben­den Lini­en aus­bre­chen zu wol­len schien – die vier Buch­sta­ben aber hat­ten es ihm ange­tan, weil sie in ihrer schlich­ten Umset­zung über das schä­bi­ge Papier hin­aus tran­szen­dier­ten. India­na, also. Zwei­fels­oh­ne war die­ser kein War­hol, obgleich er mit die­sem offen­kun­dig bekannt war und bei­de schon zusam­men­ge­ar­bei­tet hat­ten. Barr erin­ner­te sich an einen von War­hols Fil­men – knapp vier­zig Minu­ten in grob­kör­ni­gem Schwarz-Weiß –, der nichts ande­res zeig­te, als das andäch­ti­ge Kau­en und Schlu­cken India­nas, der einen Pilz ver­speis­te. Er besaß aber weder des­sen Talent, sich selbst zu insze­nie­ren, noch ver­moch­te es sei­ne Kunst, die Mas­sen zu begeis­tern. »Das hier ist aber etwas ande­res«, dach­te Barr, wäh­rend er die Kar­te in den Hän­den hielt, »das hier, das könn­te etwas sein!«

Zwei­mal hat­te er bereits ver­geb­lich zum Hörer gegrif­fen und die Num­mer des Ate­liers gewählt, in dem India­na nach Aus­sa­ge einer gemein­sa­men Bekann­ten der­zeit arbei­te­te, als er den Künst­ler schließ­lich erreich­te. Weil er zu Mit­tag einen Tisch im Wal­dorf reser­viert und über­dies wenig Lust auf das übli­che belang­lo­se Geplän­kel hat­te, zöger­te er nicht lan­ge, India­na sein Anlie­gen vor­zu­brin­gen. Wie er bereits erwar­tet hat­te – nach mehr als vier­zig Jah­ren, in denen Künst­ler bei ihm ein und aus gegan­gen waren, sprach er zwar noch immer nicht offen über die hün­di­sche Bedürf­tig­keit, die er den meis­ten davon unter­stell­te, setz­te die­sel­be bei Ver­hand­lun­gen aber berech­nend als gege­ben vor­aus –, zeig­te sich India­na gleich auf­ge­schlos­sen. »Das Motiv habe ich im ver­gan­ge­nen Jahr mehr­fach in Far­be umge­setzt, das soll­ten sie sich ein­mal anschau­en, falls sie die Zeit fin­den, mich in Down­town zu besu­chen«, hat­te India­na ange­bo­ten, bevor Barr auf die Ver­gü­tung zu spre­chen kam. »Das Muse­um ist bereit, ihnen 1.000 Dol­lar für den Abdruck zu zah­len«, sag­te Barr und war­te­te gespannt, was der Künst­ler dar­auf erwi­dern wür­de. Die­ser ant­wor­te­te mit einem knap­pen OK, um dann doch noch ein­mal weit aus­zu­ho­len und auf die Ent­ste­hungs­ge­schich­te sei­nes Werks ein­zu­ge­hen. »Die brü­der­li­che Lie­be, die aus den vier Buch­sta­ben spre­chen soll, ist von den Kirch­gän­gen inspi­riert, die mei­ne Kind­heit geprägt haben, die Far­ben sind der Bild­mar­ke von Phil­lips 66 ent­lie­hen, für die mein Vater damals tätig war«, sag­te er, »im letz­ten Früh­jahr schon habe ich in der Sta­ble Gal­lery von Ele­a­n­or Ward eine Serie aus­ge­stellt, die dem glei­chen Sujet gewid­met war«. Das muss­te die Aus­stel­lung gewe­sen sein, von der er gele­sen hat­te, dach­te Barr. 

»Nun gut, lie­ber Robert, ich möch­te ihre Zeit nicht län­ger als unbe­dingt nötig bean­spru­chen, des­halb wür­de ich vor­schla­gen, dass wir noch schnell auf die Rech­te an ihrem Werk zu spre­chen kom­men«, sag­te Barr und räus­per­te sich laut. Der Künst­ler lach­te schal­lend. »Rech­te? Wel­ches Recht kann ich schon an einem Wort besit­zen? Die Lie­be ist frei, die Lie­be gehört allen und die Lie­be wird auch ganz bestimmt nicht lizen­siert!« Das klang modern und ent­sprach dem Zeit­geist, dach­te Barr, aber auch ziem­lich blöd. »Ziem­lich gut«, erwi­der­te er aber statt­des­sen und ver­ein­bar­te mit India­na, ihn als­bald in sei­nem Ate­lier zu besu­chen. Als er auf­leg­te, war er zufrie­den. Das Mit­tag­essen war­te­te auf ihn.

Border Collie Welpe, 4 Wochen alt
15|08|2022 – Rüde No. 1

West Woodburn, Northumberland, 1893

Der Win­ter wür­de früh kom­men in die­sem Jahr, das wuss­te er. Die Bäu­me, die den Weg hin­aus zu dem abge­le­ge­nen Farm­haus säum­ten, hat­ten bereits in den letz­ten August­wo­chen damit begon­nen, ihr Laub abzu­wer­fen, und wenn er jetzt, im Okto­ber, bei den Scha­fen auf der angren­zen­den Wei­de stand, sah er nichts als kah­le Wip­fel aus dem Nebel ragen. Den letz­ten Gang des Tages um den Pferch tat er für gewöhn­lich allein, und auch an die­sem hat­te er sich dafür ent­schie­den, die Hun­de in dem aus gro­ben Holz­lat­ten gezim­mer­ten Ver­schlag zu las­sen, in dem sie unter­ge­bracht waren. Der Rüde, ein for­sches Tier mit star­rem Blick, war ein Bei­ßer und mach­te ihm die Scha­fe rund, statt sie geschickt zu trei­ben, und die Hün­din, die zwar sanf­ter im Wesen war, knick­te vor jedem Bock ein, der sich ihr wider­spens­tig ent­ge­gen­stell­te. Wäh­rend er also ein­sam um den Pferch her­um wan­der­te, dach­te er bei sich, wie wun­der­bar es wäre, wenn es gelin­gen könn­te, die Uner­schro­cken­heit des einen mit dem Sanf­mut der ande­ren zu kreu­zen. »Ein Hund, der um sein wöl­fi­sches Erbe weiß, aber füh­rig genug ist, es nicht bis zum Letz­ten zu nut­zen«, seufz­te er und wand­te sich zum Gehen um. Der Nebel hat­te der­weil nicht nur die Baum­wip­fel ver­schluckt, son­dern auch das Farm­haus ver­schwin­den las­sen. Gedämpft nahm er noch den Licht­schein der Petro­le­um­lam­pen aus den nied­ri­gen Spros­sen­fens­tern wahr, genau­so gedämpft die Stim­me sei­ner Frau, die sei­nen Namen rief: »Adam

Border Collie Welpe, 4 Wochen alt
15|08|2022 – Rüde No. 2

Jerusalem, 1977

Phyl­lis May­hew war ent­täuscht. Die spi­ri­tu­el­le Erwe­ckung, die sie sich von der Rei­se nach Isra­el ver­spro­chen hat­te – einer Rei­se, die sie sich fest vor­ge­nom­men hat­te, seit­dem sie ihren Stu­den­ten­aus­wei­se vor etwas mehr als fünf Jah­ren gegen eine Fest­an­stel­lung in einer christ­li­chen Buch­hand­lung ein­ge­tauscht hat­te –, hat­te sich nicht ein­ge­stellt. Nie hat­te sie sich wei­ter von Gott ent­fernt gefühlt, als zwi­schen den unzäh­li­gen Tou­ris­ten, mit denen man sie durch die Gra­bes­kir­che gescho­ben hat­te, nie war ihr das eige­ne Leben so leer und nich­tig vor­ge­kom­men, wie beim Gang über die Via Dolo­ro­sa – den Lei­dens­weg Chris­ti –, von bil­li­gen Ramsch­lä­den gesäumt. Auch ein Tages­aus­flug in die Wüs­te – in einem him­mel­blau­en Bus, der furcht­bar röhr­te, und viel schlim­mer noch als das, kei­ne Air Con­di­ti­on besaß – hat­te dem nicht abhel­fen kön­nen. Kei­ne Erwe­ckung, kei­ne Erleuch­tung. Und Zun­gen­re­de? Nicht ein­mal das!

Phyl­lis saß also in mehr als nur getrüb­ter Stim­mung auf einer Stein­bank im Gar­ten des Natio­nal­mu­se­ums, in das es sie aus blin­der Ver­zweif­lung ver­schla­gen hat­te, als ein Mann in den mitt­le­ren Jah­ren an sie her­an trat. Er trug einen brau­nen Schlapp­hut unter dem sträh­ni­ge graue Haa­re her­vor­lug­ten, ein weit geschnit­te­nes blau­ka­rier­tes Hemd, das zu tief auf­ge­knöpft war, um die im Gegen­satz zum son­nen­ver­brann­ten Gesicht schnee­wei­ße Brust zu ver­ber­gen, und hielt eine Kame­ra in den Hän­den. Inner­lich berei­te­te sich Phyl­lis schon dar­auf vor, ihn mit einem geziel­ten Schlag ihrer bunt bestick­ten Hand­ta­sche abzu­weh­ren – dar­auf ver­stand sie sich ganz her­vor­ra­gend, seit­dem ein Kom­mi­li­to­ne ihr 1969 unge­fragt an die Tit­ten gefasst hat­te, wäh­rend sie Coret­ta Scott King zum Wei­ßen Haus hin­ter­her lie­fen –, als er ihr lächelnd die Kame­ra ent­ge­gen streck­te. »Wür­den sie so freund­lich sein und ein Foto von mir machen?«, frag­te er mit einem Akzent, den sie nicht zwei­fels­frei zuord­nen konn­te. »Ein Hin­ter­wäld­ler, am ehes­ten«, dach­te Phyl­lis, »ein Hin­ter­wäld­ler, der genau­so wie ich auf Sinn­su­che ist«. Statt ihn unwirsch in die Schran­ken zu wei­sen, erwi­der­te sie also das Lächeln und frag­te, ob er ein bestimm­tes Motiv dabei im Sinn hätte.

Wie sich her­aus­stell­te, hat­te er das. Er führ­te sie über den geschot­ter­ten Hof zu einer hohen Skulp­tur aus rost­brau­nem Stahl, die sie als hebräi­sche Schrift­zei­chen deu­te­te. Vage fühl­te sie sich an eine ganz ähn­li­che Skulp­tur erin­nert, die im New Yor­ker Cen­tral Park gestan­den hat­te – die­sel­be, die auch als Brief­be­schwe­rer neben der Regis­trier­kas­se ihrer Buch­hand­lung stand, und die sie auch schon auf Brief­mar­ken gese­hen hat­te, 1973 moch­te das gewe­sen sein. »Aha­va«, sag­te der Mann, indem er auf die Skulp­tur deu­te­te, »das ist das hebräi­sche Wort für Lie­be«. Phyl­lis nick­te. »Tat­säch­lich«, dach­te sie, »dann muss es sich doch um das glei­che Kunst­werk han­deln«. Wäh­rend der Mann sich breit­bei­nig vor der brau­nen Skulp­tur pos­tier­te und sie in schnel­ler Fol­ge drei­mal den Aus­lö­ser drück­te und den Film mit dem schwer­gän­gi­gen schwar­zen Hebel wei­ter­trans­por­tier­te, dach­te sie ange­strengt dar­über nach, von wel­chem Künst­ler das Kunst­werk stamm­te. War es War­hol? Oder Lich­ten­stein? Nein, nie­mand an des­sen Namen sie sich noch erin­ner­te. John Len­non hät­te ihr viel­leicht auf die Sprün­ge hel­fen kön­nen, wenn der zufäl­lig vor­bei­ge­kom­men wäre, denn die­ser hat­te sich schließ­lich – das hat­te ihr vor Jah­ren jemand auf einer Par­ty erzählt, auf der es zu vie­le Trips und nur ein Bade­zim­mer gege­ben hat­te – von dem besag­ten Kunst­werk zu »All you need is Love« inspi­rie­ren las­sen. Weil der gera­de aber wohl Bes­se­res zu tun hat­te – wahr­schein­lich saß er gemein­sam mit Yoko Ono im Dako­ta Buil­ding und lach­te herz­haft über das neu­es­te Album der Wings –, rich­te­te sie die Fra­ge an ihr Gegen­über. »Von einem Idio­ten, der an dem ursprüng­li­chen Ent­wurf aus fal­scher Beschei­den­heit kaum mehr als 1.000 Dol­lar ver­dient hat«, lau­te­te die Ant­wort, »einem, dem die Kri­tik aber trotz­dem nur zu ger­ne beschei­nigt hat, sei­ne Idea­le ver­kauft und sei­ne Kunst kom­mer­zia­li­siert zu haben«. 

Phyl­lis May­hew schüt­tel­te den Kopf. »Wie kom­men sie nur dazu, so etwas zu sagen?«, ent­fuhr es ihr. »Lie­be auf bil­li­gen Kaf­fee­be­chern, Lie­be auf schlecht ver­näh­ten T-Shirts, Lie­be auf Pos­tern, Post­kar­ten und Kitsch«, gab er mit einer hohen Fis­tel­stim­me zurück, die der ihren glei­chen soll­te, »als was wür­den sie das bezeich­nen, wenn nicht als kom­plet­ten künst­le­ri­schen Aus­ver­kauf?« Wie­der schüt­tel­te sie den Kopf. »Aber wer sind denn sie, um so hart zu urtei­len und den Künst­ler als Idio­ten zu bezeich­nen?«, lärm­te sie mit sich über­schla­gen­der Stim­me zurück, »Weil ich die­ser Idi­ot bin«, schrie er. Und der hei­li­ge Geist kam über sie.

Border Collie Welpe, 4 Wochen alt
15|08|2022 – Rüde No. 3

Love Park, Philadelphia, 2022

»Aus evo­lu­tio­nä­rer Sicht, lie­ber Regi­nald, ist die Geschich­te des Hun­des, trotz aller Wider­nis­se, eine Erfolgs­ge­schich­te«, sag­te Bar­num und lehn­te sich schau­kelnd zurück, um nach einem Gras­halm zu haschen, »stell’ dich auf den Kopf, mei­net­we­gen, und es wird trotz­dem nichts dar­an ändern, dass die Ent­schei­dung, dem Men­schen zu fol­gen, die bes­te gewe­sen ist, mit der sich irgend­ein Fami­li­en­mit­glied der Cani­dae brüs­ten kann«. 

Regi­nald, der die Stirn nicht erst in Fal­ten legen muss­te, um die­sel­be zu kräu­seln, blies stumm Luft durch sei­ne üppi­gen, her­ab­hän­gen­den Lef­zen. »Geahnt habe ich es gleich, dass du mei­nen Aus­füh­run­gen kaum zustim­men wirst, aber – lie­ber, bes­ter Regi­nald – lass’ mich dir noch eines sagen«, und damit füg­te der eit­le, schwarz-wei­ße Bor­der Col­lie eine dra­ma­ti­sche Kunst­pau­se ein, »wenn du alle Wöl­fe die­ser Welt bit­test, in der einen Waag­scha­le eine Waa­ge Platz zu neh­men, und ver­sam­melst alle Hun­de die­ser Welt in der ande­ren, wer wird da wohl gewin­nen?« 

Der stäm­mi­ge Shar Pei ließ den Blick schwei­fen, bis er an einer klei­nen Bull­dog­ge hän­gen blieb, die sich im Schat­ten einer der umste­hen­den Bän­ke die kur­ze Schnau­ze mit den Pfo­ten rieb. »Nimm’ sie, nur als Bei­spiel«, sag­te Regi­nald, »zu wel­chem Preis hat sie gewon­nen? Ver­gli­chen mit dem Wolf ist ihr Gehirn win­zig klein, ihre Bei­ne viel zu kurz, und selbst, wenn sie noch ein wenig län­ger wären, wür­de es der Ärms­ten kaum gelin­gen, den Weg in den Park selb­stän­dig zu bezwin­gen«. Mit einem Nicken wies er auf den schnit­ti­gen Kin­der­wa­gen hin, der gleich neben der Park­bank stand. Er woll­te gera­de dazu anhe­ben, ein wei­te­res Bei­spiel anzu­füh­ren – konn­te sich aber nur schwer ent­schei­den, ob er Flet­cher, den blin­den Bor­der Col­lie, oder den viel zu früh ver­stor­be­nen Choice, einen herz­kran­ken Dober­mann, für geeig­ne­ter hielt –, als er von einer näseln­den Stim­me unter­bro­chen wurde.

»Es scheint, dass die Natur dem Men­schen den Hund geschenkt hat, für sei­nen Schutz und sei­ne Freu­de. Er ist von allen Tie­ren das Treu­es­te: er ist der bes­te Freund, den der Mensch je haben könn­te.« Mit wohl­ge­setz­ten Schrit­ten umrun­de­te Cas­si­us die bei­den ande­ren Hun­de – unbe­merkt muss­te er sich den bei­den von hin­ten genä­hert und deren ange­reg­tes Gespräch belauscht haben –, schüt­tel­te das frisch auf­tou­pier­te Haupt und raun­te: »Vol­taire!« Beklom­men blick­ten Bar­num und Regi­nald zuerst ein­an­der, dann den wei­ßen Königs­pu­del an. Es war Regi­nald, der schließ­lich als ers­ter die Spra­che wie­der­fand. »Das stellt doch auch nie­mand in Fra­ge«, sag­te er, »die Fra­ge ist doch viel eher, ob es sich für uns Hun­de gelohnt hat, die Frei­heit gegen Treue ein­zu­tau­schen. Selbst­ver­ständ­lich haben wir frei­es Fut­ter bekom­men und uns den Men­schen ein stück­weit gefü­gig gemacht. Wir haben aber auch Erb­krank­hei­ten bekom­men und uns nach Belie­ben umge­stal­ten las­sen. Wenn die Evo­lu­ti­on das eine Erfolgs­ge­schich­te nennt, war das viel­leicht nicht ihr aller­bes­tes Geschäft!« 

Bar­num schnapp­te zor­nig nach Luft. »Aber, aber«, japs­te er, »aber die Men­schen lie­ben uns doch!« Regi­nald lach­te ver­ächt­lich. »Tun sie das alle? Und bloß aus selbst­lo­sem Grund? Oder ist deren Lie­be oft­mals so stark ver­blen­det, dass sie selbst dar­in ver­sagt, unse­re hün­di­schen Bedürf­nis­se wahr­zu­neh­men? Dass sie bloß noch unser ange­neh­mes Äuße­res wahr­nimmt, aber zu blind ist, um zu sehen, dass wir ren­nen und sprin­gen und atmen wol­len?« Alle drei schwie­gen. Gegen­über wur­de die klei­ne Bull­dog­ge gera­de zurück in den schnit­ti­gen Kin­der­wa­gen geho­ben. »Die Lie­be ist lang­mü­tig, die Lie­be ist gütig«, woll­te Cas­si­us gera­de zum Bes­ten geben, als ihm Regi­nald ein letz­tes Mal ins Wort fiel. »Ich weiß nicht, wel­che zer­le­se­ne Zita­ten­samm­lung du in dei­ner Wel­pen­zeit zer­fetzt hast, Cas­si­us«, schnauz­te er den wei­ßen Pudel an, »mit Pathos allein kom­men wir hier aber nicht mehr wei­ter. Lie­be muss hei­ßen, den ande­ren zu sehen, und auch die Feh­ler nicht schön zu reden. Andern­falls ist sie nicht mehr, als ein Monu­ment, das mit Tau­ben­dreck über­zo­gen ist«. Und alle drei rich­te­ten den Blick auf das mit Rost über­zo­ge­ne Gebil­de, das sich hoch über den Platz erhob, über dem die Mit­tags­hit­ze flirrte.

© Johannes Willwacher