Die sechste Lebenwoche: sechs Spaziergänge durch unseren Garten, die nicht nur lehrreich für die Welpen, sondern auch aufschlussreich für den Züchter sind.

Pet Sounds

Mit einem Wel­pen auf dem Arm stei­ge ich über die nied­ri­ge Mau­er, die den unte­ren Gar­ten im Schat­ten des Apfelsbaums in zwei Tei­le teilt. Unter mei­nen Schu­hen spü­re ich das Fall­obst, das ver­steckt im knö­chel­ho­hen Gras liegt, höre, wie ein Apfel unter mei­nen Schrit­ten mit einem lau­ten Schmat­zen zer­platzt, dann ist der schma­le Geh­weg erreicht, der sich von dem ver­fal­le­nen Gewächs­haus bis zum Zaun am ande­ren Ende des Gar­tens zieht. Dort set­ze ich den Wel­pen ab und lau­fe vor­aus. 

Bei den meis­ten unse­rer vor­an­ge­gan­ge­nen Wür­fe bin ich ganz ähn­lich vor­ge­gan­gen, um mir einen ers­ten Ein­druck über die Per­sön­lich­keit unse­rer Wel­pen zu ver­schaf­fen. Los­ge­löst von den Geschwis­tern und ohne den Rück­halt der Mut­ter, tre­ten grund­le­gen­de Wesens­zü­ge sehr viel deut­li­cher zu Tage – lässt sich viel kla­rer beur­tei­len, wie auf­ge­schlos­sen oder ängst­lich, wie anhäng­lich oder selb­stän­dig ein Wel­pe ist. Lan­ge dau­ern die ers­ten Spa­zier­gän­ge aber noch nicht. Die vie­len neu­en Ein­drü­cke – hohe Grä­ser und Hasel­nuss­sträu­cher, deren Blät­ter sich bedroh­lich im Wind wie­gen – und die unbe­kann­ten Gerü­che wol­len erst ein­mal ver­ar­bei­tet wer­den. Weil den meis­ten Wel­pen nach zehn, viel­leicht auch fünf­zehn Minu­ten die geis­ti­ge Erschöp­fung anzu­mer­ken ist, und kei­ner über­for­dert wer­den will, geht es dann gleich zu den Geschwis­tern zurück. Aber erst ein­mal sitzt nun der ers­te von zwei Wel­pen da, die sich heu­te in die Wild­nis wagen dürfen.

Auf den ers­ten Blick scheint es, als brau­che sie ein wenig län­ger, um sich mit der unbe­kann­ten Umge­bung ver­traut zu machen. Lang­sam hebt sie den Kopf, schaut unsi­cher umher, dann läuft sie mir zwei Schrit­te ent­ge­gen. Im Gegen­satz dazu lässt er mich kei­ne Sekun­de aus den Augen, hef­tet sich an mei­ne Fer­sen, kaum dass ich ihn auf dem Geh­weg abge­setzt habe, und nutzt gleich die ers­te Gele­gen­heit, um zurück auf mei­nen Schoß zu klet­tern. Sie hat schließ­lich auch von dem Gras­bü­schel abge­las­sen, das sie unter­wegs auf­ge­hal­ten hat, hat die Ohren geho­ben und auf mein Pfei­fen gelauscht. Mit flie­gen­den Pfo­ten kommt sie auf mich zuge­rannt, drückt sich eng an mei­ne Bei­ne – und weil das für bei­de Wel­pen nur der ers­te von vie­len Schrit­ten gewe­sen sein soll, wie­der­ho­le ich die Frei­fol­ge noch das eine oder ande­re Mal. 

»Wenn sie nicht wei­ter weiß oder Unter­stüt­zung braucht, for­dert sie laut­stark Hil­fe ein«, notie­re ich am Abend in mein Notiz­buch, »er ist selbst über grö­ße­re Distan­zen bereits gut am Men­schen ori­en­tiert«. Bei­des sind gute Grund­la­gen, um in den kom­men­den Wochen mit den Wel­pen zu arbei­ten und sie bereits mit den ers­ten Lek­tio­nen der Hun­de­er­zie­hung ver­traut zu machen. Ob das auch für die übri­gen Wel­pen gel­ten wird? Mor­gen ist auch noch ein Tag!

Wouldn’t It Be Nice

Border Collie Welpe in der 6. Lebenswoche
24|08|2022 – Broad­me­a­dows Inter­stel­lar Overdrive

Gemein­hin heißt es, dass Wel­pen einen natür­li­chen Fol­ge­trieb besit­zen, der dafür sorgt, dass sie sich auf Spa­zier­gän­gen stark am Men­schen ori­en­tie­ren, und der etwa bis zum vier­ten oder fünf­ten Lebens­mo­nat anhält. Nicht bei allen Wel­pen ist die­ser Fol­ge­trieb glei­cher­ma­ßen stark aus­ge­prägt, und bei vie­len lässt sich über­dies beob­ach­ten, dass sie den Drang der Bezugs­per­son zu fol­gen äußerst schnell able­gen, wenn sie sich mit der Umge­bung erst ein­mal ver­traut gemacht haben und über­zeugt sind, dass die­se sicher ist. Für die bei­den Wel­pen, die mich heu­te zum ers­ten Mal auf einen Spa­zier­gang durch unse­ren Gar­ten beglei­tet haben, gilt das viel­leicht ganz besonders.

»Jetzt ist sie schon wie­der abge­zwit­schert«, den­ke ich, als ich mich umdre­he, um nach dem Wel­pen zu schau­en, der mir eben noch über den aus­ge­brann­ten Rasen gefolgt ist, »was ist denn nun schon wie­der so span­nend gewe­sen?« Suchend schaue ich umher, sehe mich selbst schon auf allen Vie­ren durch die buschig gewach­se­ne Hecke zum Nach­bar­grund­stück krie­chen, dann erbli­cke ich die Hün­din zwi­schen den leuch­tend gel­ben Auf­le­gern der aus­ran­gier­ten Hür­de – oder bes­ser: eine wei­ße Ruten­spit­ze, die dazwi­schen ver­schwin­det. »Ein klein wenig zu selbst­stän­dig«, sage ich zu mir selbst, mei­ne aber die knapp sechs Wochen alte Hün­din, die nach einer Wei­le auf der ande­ren Sei­te der Hür­de wie­der her­vor­ge­kro­chen kommt, »aber alle­mal bes­ser als ein Wel­pe, der sich vor allem ver­wei­gert und ängst­lich ist!«

Angst hat auch er nicht. Ganz im Gegen­teil. Zwar sucht er viel häu­fi­ger mei­ne Nähe, als dass sie das getan hat, dafür zieht er danach mit bei­na­he noch grö­ße­rer Aben­teu­er­lust auf sei­ne eige­nen Streif­zü­ge los. Der Apfel, den er bei einem von die­sen erbeu­tet hat, beschäf­tigt ihn schließ­lich am längs­ten. Und so kom­me ich – nach all dem Fol­gen, Weg­lau­fen und Suchen – auch end­lich ein­mal dazu, die Kame­ra aus­zu­lö­sen. Dass ich dabei auf einem fau­len Apfel sit­ze, stört nicht wei­ter. Oder war das viel­leicht gar kein Apfel?

Here Today

Border Collie Welpe in der 6. Lebenswoche
25|08|2022 – Broad­me­a­dows I Can See For Miles

Kaum, dass ich den Wel­pen aus dem Aus­lauf geho­ben und das kur­ze Weg­stück zum unte­ren Gar­ten hin­ter mich gebracht habe, höre ich es von oben kläf­fen. Zu wel­chem der vier erwach­se­nen Hun­de die­ses Kläf­fen gehört – und was mir der schril­le, sich bei­na­he über­schla­gen­de Kla­ge­laut bedeu­ten soll –, kann ich ohne einen wei­te­ren Blick rich­tig deu­ten. Das Was­ser ist leer.

Nell hat die Erwar­tungs­hal­tung, dass ihr jeder­zeit kal­tes, kla­res Was­ser zur Ver­fü­gung ste­hen muss. Kalt und klar ist Was­ser ihrer Mei­nung nach aber nur dann, wenn es frisch aus dem Hahn in den Napf gezapft wor­den ist und sich kei­ner der ande­ren Hun­de erdreis­tet hat, einen Schluck vor ihr zu neh­men. Da es in einem Mehr­hun­de­haus­halt aber schier unmög­lich ist, jedem Hund den eige­nen Was­ser­napf zuzu­wei­sen, und auch der für­sorg­lichs­te Hun­de­mensch mit­un­ter Bes­se­res zu tun hat, als den – aus hün­di­scher Sicht — unge­nieß­ba­ren Schmier­film auf der Was­ser­ober­flä­che zu prü­fen, wird eben laut­hals kra­keelt. Der Schmock wird schon sprin­gen. Tut er auch.

Dass man gegen­über sei­nen Wel­pen auch als Züch­ter eine gewis­se Erwar­tungs­hal­tung an den Tag legt – weni­ger in dem Sin­ne, dass ein Wel­pe in der sechs­ten Lebens­wo­che die­sen oder jenen Ent­wick­lung­s­tand erreicht haben soll­te, son­dern eher, dass man den­sel­ben auch unab­hän­gig von der Situa­ti­on rich­tig ein­zu­schät­zen weiß –, habe ich mir in der Fol­ge selbst bewie­sen. Bei den bei­den letz­ten Wel­pen, die mich heu­te auf einen kur­zen Spa­zier­gang durch unse­ren Gar­ten beglei­ten durf­ten, habe ich die gezeig­ten Ver­hal­tens­wei­sen – ein hohes Maß an Anhäng­lich­keit, das schnell von einem noch weit­aus höhe­ren Maß an Selb­stän­dig­keit und Erkun­dungs­freu­de abge­löst wird – näm­lich gedank­lich bereits vor­aus­ge­setzt. Wäh­rend er irgend­wann aber vor der Hit­ze kapi­tu­liert und sich hechelnd in den Schat­ten flüch­tet, ist ihre Neu­gier durch Nichts auf­zu­hal­ten. Hät­te ich sie gelas­sen, dann wäre sie zwei­fels­oh­ne noch immer unterwegs.

© Johannes Willwacher