Die letzte Woche an der schottischen Westküste: Lochs in den Highlands und Isles vor der Küste – und ein Leuchturm am Ende der Welt.

Fare­well to the High­lands, fare­well to the North,
the birth-place of Valour, the coun­try of Worth;
whe­re­ver I wan­der, whe­re­ver I rove,
the hills of the High­lands for ever I love.
Robert Burns
(1759–1796)

Mit Hunden unterwegs

Grund­sätz­lich gilt in Schott­land das »Right to Roam« – das Recht auf öffent­li­chen Zugang zur Wild­nis. Bei Wan­de­run­gen und Spa­zier­gän­gen muss sich also nicht an die aus­ge­wie­se­nen Wege gehal­ten wer­den. Dass das Sinn macht, bemerkt man spä­tes­tens, wenn der Wan­der­weg über eine Wei­de führt – und der Zugang mit Gat­tern beschränkt ist. Damit das dahin­ter gra­sen­de Vieh auch dahin­ter bleibt, ist es wich­tig, die Gat­ter wie­der sicher zu ver­schlie­ßen. Dar­über­hin­aus soll­ten Hun­de im bes­ten Fall immer an der Lei­ne geführt wer­den, um das Vieh nicht zu verschrecken.

Fel­der, die bewirt­schaf­tet wer­den, und Wei­den, auf denen Scha­fe mit Läm­mern oder Rin­der mit Käl­bern gehal­ten wer­den – das emp­fiehlt schon der gesun­de Men­schen­ver­stand –, sind davon aus­ge­nom­men und soll­ten nicht betre­ten wer­den. Ansons­ten ist Schott­land sehr hun­de­freund­lich und gibt auch an den meis­ten Strän­den nur eine ein­zi­ge Regel vor: »Pick up after your pooch!« Will hei­ßen: so lan­ge die Hin­ter­las­sen­schaf­ten des Hun­des ein­ge­tü­tet wer­den, ist man über­all willkommen.

Monday, 5th June

Border Collie in den schottischen Highlands
Halo

Die Stra­ße schraubt sich steil durch die baum­lo­se Hei­de, die letz­ten Häu­ser haben wir lan­ge schon hin­ter uns gelas­sen. Von so weit oben reicht der Blick weit über die Straits of Moyle – eine Meer­enge, an der die Ent­fer­nung von der schot­ti­schen Halb­in­sel Kin­ty­re zur nord­iri­schen Küs­te kaum mehr, als 20 Kilo­me­ter beträgt –, und bei kla­rer Sicht ist mit blo­ßem Auge nicht nur die vor­ge­la­ger­te Rath­lin Island, son­dern auch die Küs­ten­li­nie von Antrim zu erken­nen. So rich­tig genie­ßen kön­nen wir die Aus­sicht aber nicht, als wir den Park­platz errei­chen, von dem aus der Weg wie­der genau­so steil zum Leucht­turm von Mull of Kin­ty­re hin­ab führt. Ein Schlag­loch hat einen der Vor­der­rei­fen des Autos in Mit­lei­den­schaft gezo­gen, und statt zu wan­dern, will der Rei­fen gewech­selt wer­den. »Geh’ ruhig allei­ne, ich mach’ das schon«, meint Dirk, der mit den Hun­den zurück­bleibt. Schluss­end­lich eine glück­li­che Fügung. Auf dem Weg ans Ende der Welt bin ich näm­lich nicht allei­ne, zahl­rei­che Kreuz­ot­tern son­nen sich auf dem hei­ßen Asphalt.

Nicht weit ist es von hier bis zu den Dünen von Mach­riha­nish und dem fein­san­di­gen Strand, der uns allen mit sei­ner weit­läu­fi­gen Abge­schie­den­heit ein wenig Ent­span­nung nach der vor­an­ge­gan­gen Auf­re­gung ver­spricht. Den gan­zen Nach­mit­tag ver­brin­gen die Hun­de am Was­ser, kaum einen ande­ren Men­schen bekom­men wir wäh­rend­des­sen zu Gesicht. »My desi­re is always to be here«, wol­len mir die Zei­len aus dem Lied von Paul McCart­ney nicht aus dem Kopf. Dass sich High Park – die Farm, auf die sich der Beat­le 1970 nach der Auf­lö­sung der Band zurück­zog – irgend­wo in den grü­nen Hügeln hin­ter uns befin­det, ist aber nur einer der Grün­de. »Oh, Mull of Kintyre!«

Tuesday, 6th June

Unterwegs auf der Isle of Mull
Unter­wegs auf der Isle of Mull

An der Burg wird gebaut. Das hohe Bau­ge­rüst, mit dem man Duart Cast­le zu zwei Sei­ten ein­ge­rüs­tet hat, ist schon von der Fäh­re aus zu erken­nen – kurz bevor die­sel­be im Fähr­ha­fen der Isle of Mull in Craig­nu­re anlegt. Wir haben in Oban die ers­te Fäh­re des gera­de ange­bro­che­nen Tages genom­men und bei­na­he zehn Stun­den Zeit, um die viert­größ­te Insel des Ver­ei­nig­ten König­reichs zu erkun­den.  Weil es neben der Burg – Stamm­sitz des Clan MacLean seit dem 14. Jahr­hun­dert – noch viel mehr zu sehen gibt und die zer­klüf­te­te, fast 300 Mei­len lan­ge Küs­ten­li­nie nur ein lang­sa­mes Vor­an­kom­men erlaubt, ist aber selbst das viel zu wenig. »Sight­see­ing«, sage ich ent­schlos­sen. Dirk rümpft die Nase. Ich kon­te­re, dass ein Urlaub mit Hun­den nicht durch­weg nur Urlaub für die Hun­de bedeu­ten muss.

Sir Fitz­roy Donald MacLean war schon 75 Jah­re alt, als er Duart Cast­le zurück­kauf­te. Mehr als zwei­hun­dert Jah­re war die Burg zuvor durch ver­schie­dens­te Hän­de gegan­gen und zuse­hends ver­fal­len. Die Restau­rie­rung, die er damals ver­an­lass­te, war also bit­ter nötig – und das nicht nur, weil die Camp­bells kaum einen Stein auf dem ande­ren gelas­sen hat­ten, als sie die Burg im 17. Jahr­hun­dert erober­ten. Gebaut und restau­riert wird an der Burg bis heu­te. Mehr als zwei Mil­lio­nen Pfund sind seit 2014 auf­ge­wandt wor­den, um Schä­den zu behe­ben, die durch ein­drin­gen­des Was­ser am Dach und im Mau­er­werk ver­ur­sacht wor­den sind. Durch Ein­tritts­prei­se allein lässt sich das kaum bewältigen.

Nach­dem wir die Burg besich­tigt und im Gar­ten des ange­glie­der­ten Tea Room zwei Stück­chen but­t­ri­ges Short­bread mit einem for­dern­den Feld­spatz geteilt haben, fol­gen wir der Stra­ße wei­ter nach Süden. In Fionn­phort ange­kom­men reicht die Zeit aber nur aus, um einen kur­zen Blick zur Insel Iona hin­über zu wer­fen. Die Über­fahrt über den Sound of Mull wür­de zwar nicht ein­mal zehn Minu­ten dau­ern – und hät­te sich allein schon für den Besuch des Klos­ters gelohnt –, weil die Hun­de aber schon viel zu lan­ge im Auto sit­zen, zie­hen wir es vor, an der West­küs­te ent­lang wei­ter­zu­fah­ren. »Halt an«, schreie ich hier und da, um die Kame­ra zu zücken. »Sight­see­ing«, denkt sich Dirk und lässt die Augen rollen.

Zu guter Letzt führt uns der Weg nach Cal­ga­ry – einem ver­schla­fe­nen Ort im Nord­wes­ten, dem auch die gleich­na­mi­ge Groß­stadt in Kana­da ihren Namen ver­dankt. Weiß flirrt der Sand, das Meer schil­lert in leuch­ten­den Far­ben, die tief ste­hen­den Son­ne lässt das Grün der umge­ben­den Hügel bis zu den Klip­pen hin erstrah­len. »Sight­see­ing«, seuf­zen wir bei­de, als die Lei­nen end­lich kli­cken und die Hun­de das kris­tall­kla­re Was­ser in der Bucht zum Über­schäu­men bringen.

Wednesday, 7th June

Border Collie in den schottischen Highlands
Zion

Irgend­wie hat­te ich mir das anders vor­ge­stellt. Die wil­de Wald­ein­sam­keit, die ich mir selbst – on the bon­nie banks of Loch Lomond – zusam­men­ge­reimt hat­te, ist nir­gends zu fin­den. Erst, als wir das über­füll­te Süd­ufer des größ­ten schot­ti­schen Sees hin­ter uns gelas­sen haben und der immer schma­ler wer­den­den Stra­ße am Ost­ufer fol­gen, lässt der Tru­bel nach und wer­den die Men­schen weni­ger. 

Dass der Loch Lomond auch unter der Woche ein belieb­tes Aus­flugs­ziel dar­stellt, lässt sich frag­los durch die gute Erreich­bar­keit von den bei­den schot­ti­schen Groß­städ­ten aus begrün­den: Glas­gow ist nicht ein­mal eine Stun­de ent­fernt, von Edin­burgh aus braucht es knapp zwei Stun­den, um im Loch Lomond and the Trossachs Natio­nal­park ein biss­chen High­land-Luft zu schnup­pern. Weil nicht nur der West High­land Way am Ufer des Sees ent­lang führt, son­dern mit dem 974 Meter hohen Ben Lomond auch einer der meist­be­stie­ge­nen Mun­ros in Schott­land lockt, ist die Gegend auch bei Wan­de­rern äußerst beliebt. Wie vie­le das selbst an einem ganz gewöhn­li­chen Wochen­tag sind, bemer­ken wir, als die Stra­ße schließ­lich in Rowar­dennan endet.

»Weit lau­fen kann ich nicht«, sage ich und schie­le zuerst auf den ver­stauch­ten Knö­chel, der auch nach zehn Tagen immer noch schmerzt, um schließ­lich einen Blick auf die Uhr zu wer­fen, »um jetzt noch den Pfad zum Gip­fel ein­zu­schla­gen, wäre es aber ohne­hin schon zu spät«. Dirk nickt. Fünf bis sie­ben Stun­den soll die Wan­de­rung über den Sròn Aonaich zum Ben Lomond in Anspruch neh­men – selbst unter bes­se­ren Bedin­gun­gen ist das am frü­hen Nach­mit­tag kaum noch zu schaf­fen. Wir ent­schei­den uns also, auf den Weit­blick zu ver­zich­ten und statt­des­sen dem West High­land Way ein Stück weit am Ufer ent­lang zu fol­gen. Der taucht bald in den dich­ten Eichen­wald ab, bald nähert er sich dem Ufer wie­der – und als wir end­lich eine abge­le­ge­ne Bucht errei­chen, die weit genug von dem her­aus­ge­putz­ten Mas­sen­tou­ris­mus ent­fernt ist, stellt sich auch das Gefühl der Wald­ein­sam­keit ein. Dem die Hun­de aber – wie soll­te es anders sein – ihre ganz eige­nen Bedürf­nis­se ent­ge­gen­zu­set­zen haben: wo es Was­ser gibt, da gibt es wohl auch immer for­dern­des Gebell. 

Thursday, 8th June

Glenfinnan Viaduct mit dem Jacobite Steam Train
Glen­finnan Via­duct mit dem Jaco­bi­te Steam Train

»Geh’ du doch schon mal vor«, sagt Dirk, als er sich abwen­det, um einen Park­schein zu lösen. Kei­nen Augen­blick spä­ter ist er im Getüm­mel ver­schwun­den. Weil der Park­platz zwi­schen dem Glen­finnan Via­duct und dem Glen­finnan Monu­ment am Ufer des Loch Shiel um die Mit­tags­zeit heil­los über­füllt ist, haben wir ent­schie­den, die Hun­de im Auto zu las­sen. Ich schul­te­re also mei­nen Ruck­sack und mache mich allein auf den Weg zu der Brü­cke, die sich nur einen kur­zen Fuß­marsch ent­fernt über das Tal erhebt. 1898 im Zuge des Aus­baus der West High­land Line zwi­schen Fort Wil­liam und Mal­laig erbaut, ist das 380 Meter lan­ge Bau­werk eigent­lich gar nichts beson­de­res – auch ich habe schon län­ge­re, höhe­re oder archi­tek­to­nisch anspruchs­vol­le­re Brü­cken gese­hen. Dass sie den­noch ein tou­ris­ti­scher Anzie­hungs­punkt ist, und ich beim Näher­kom­men immer mehr Men­schen ent­de­cke, die von den umge­ben­den Hügeln auf die Brü­cke her­un­ter­bli­cken, hat aber einen ganz ande­ren Grund. In den Fil­men der Har­ry Pot­ter-Rei­he ist sie immer wie­der zu sehen gewe­sen. Der Jaco­bi­te Steam Train, der sie in den Som­mer­mo­na­ten nach Fahr­plan vier­mal täg­lich kreuzt, ist des­halb auch als Hog­warts-Express bekannt. 

Der nächs­te Zug soll die Brü­cke erst am frü­hen Nach­mit­tag pas­sie­ren. Den Fahr­plan habe ich am Mor­gen noch über­prüft. Ich habe kaum das Gat­ter erreicht, das unter der Brü­cke durch­quert wer­den muss, um zu einem der höher gele­ge­nen Aus­sichts­punk­te zu gelan­gen, als um mich her­um plötz­lich Hek­tik aus­bricht. Ver­wirrt schaue ich mich um – dann höre auch ich das Rol­len und Stamp­fen des Zuges. Ohne wei­ter nach­zu­den­ken, bemü­he ich mich, noch an Höhe zu gewin­nen, klet­te­re über zwei, drei klei­ne­re Fel­sen, blei­be auf dem vier­ten schließ­lich ste­hen und löse aus.

»Ronald Weas­ley«, rufe ich Dirk ent­ge­gen, als der mir auf dem Rück­weg ent­ge­gen­kommt, »weil du so her­um­ge­trö­delt hast, haben wir den Zug nach Hog­warts ver­passt!« Dass auch ich den­sel­ben nur zufäl­lig erwischt habe, tut nichts zur Sache. Bis zum Loch Shiel – dem Schwar­zen See der Har­ry Pot­ter-Fil­me – und der Eilean na Mòi­ne im Loch Eilt – auf der sich in den Fil­men das Grab des Schul­lei­ters Albus Dum­ble­do­re befin­det – schaf­fen wir es auch so. 

Friday, 9th June

Ostell Beach auf der Cowal Peninsula
Ostell Beach auf der Cowal Peninsula

Der letz­te Tag. Mor­gen schon soll es – nach drei Wochen, die wie nichts ver­flo­gen sind – auf die Heim­rei­se gehen. »Was fan­gen wir mit unse­rem letz­ten Tag an?«, den­ken wir uns also, als wir am Mor­gen vor dem Cot­ta­ge ste­hen, und das ers­te Son­nen­licht ver­hei­ßungs­voll durch die Bäu­me bricht. Der Tag ver­spricht schön zu wer­den – der Wind hat auf­ge­frischt, und neben den letz­ten Wol­ken auch die läs­ti­gen Mid­ges für eine Wei­le ver­trie­ben: »Was fan­gen wir an?« Auch wenn wir in den ver­gan­ge­nen drei Wochen viel gese­hen haben, bleibt zu viel noch offen und haben wir zu vie­les – zuguns­ten der Hun­de – auf ein ande­res Mal ver­tagt. Weil ein Groß­teil der noch ver­blie­be­nen Sehens­wür­dig­kei­ten mit län­ge­ren Auto­fahr­ten ver­bun­den ist, und die Rück­rei­se ohne­hin bedeu­tet, zu viel Zeit im Auto zu ver­brin­gen, ent­schei­den wir uns schluss­end­lich für den kür­zes­ten Weg. Für den zum Strand.

Ganz im Süden der Halb­in­sel Cowal liegt Ostell Bay gut ver­steckt. Wie gut, bemer­ken auch wir, nach­dem wir mit der Fäh­re von Tar­bert nach Por­ta­va­die über­ge­setzt sind, und ein wenig rat­los vor der Kil­bri­de Farm ste­hen, von der ein Wan­der­weg in zwan­zig Minu­ten zu der abge­schie­de­nen Bucht füh­ren soll. Der ers­te Pfad, dem wir fol­gen, endet im Farn, und der zwei­te wird von zwei bel­len­den Hun­den bewacht. Weil das Bel­len von fünf Hun­den aber noch ein wenig lau­ter ist – und wir offen­kun­dig nicht die ers­ten Wan­de­rer sind, die den mit einer Ket­te gesi­cher­ten Weg zum Strand ein­schla­gen –, geben die bei­den den Weg schließ­lich frei. Der führt vor­bei an Wei­den bis in die Dünen, dahin­ter las­sen sich schon das glit­zern­de Meer und die hoch auf­ra­gen­den Berg­rü­cken der Isle of Arran erken­nen. Es ist Ebbe, als wir ankom­men. Der Strand ist unend­lich weit und men­schen­leer. »Mehr kann man sich für den letz­ten Urlaubs­tag doch eigent­lich gar nicht wün­schen«, den­ke ich.

Wäh­rend Dirk mit den Hun­den durch die Wel­len tobt, kommt mir eine Geschich­te in den Sinn, die ich irgend­wann ein­mal gele­sen habe. Einem Schaf­hir­ten war beim Zusam­men­trei­ben der Her­de eines sei­ner Scha­fe ent­kom­men. Nach­dem er die Hun­de vor­aus­ge­schickt hat­te, fand er es kopf­über im Moor ste­cken. Weil er nur noch den Schwanz zu fas­sen bekom­men konn­te, zog er aus Lei­bes­kräf­ten dar­an – so fest, dass der­sel­be schließ­lich abriss, und das Schaf zur Gän­ze im Moor ver­sank. »Hät­te ich mehr zu fas­sen bekom­men, wäre auch mei­ne Geschich­te län­ger gewe­sen«, schloss der Hir­te sei­ne Erzäh­lung. Viel­leicht darf das auch für unse­re Zeit hier in Schott­land gelten?

© Johannes Willwacher