Ein Hundemärchen über das Kleinreden und Großwerden – für unseren I-Wurf, der heute seinen ersten Geburtstag feiert.
One of these mornings
you’re gonna rise up singing.
You’re gonna spread your wings
and take, and take to the sky.
Summertime, George Gershwin (1935)
Ein junger Hund lag im hohen Gras, den Kopf zwischen den Pfoten vergraben. Um ihn herum summte und surrte es fröhlich, er selbst blies aber nur dann und wann einen traurigen Seufzer durch die hängenden Lefzen. Eine ganze Weile schon hatte er dort so gelegen, als schließlich eine grüne Raupe das Wort an ihn richtete, die auf einen Grashalm gekrochen war, der über seinem Kopf wippte.
»Warum so traurig?«, wollte dieselbe von ihm wissen. Der junge Hund seufzte zur Antwort bloß. »Überall grünt und blüht es, und du liegst hier, als wäre dein junges Leben längst welk«, fuhr die Raupe fort, »willst du mir nicht verraten, was dir widerfahren ist?« Wieder seufzte der junge Hund nur, hob dann aber doch zu sprechen an: »Siehst du die Weiden, drüben hinterm Zaun? Die Kühe, die dort stehen, haben mich ausgelacht und gemeint, dass ich es nie zu etwas bringen werde, weil ich für einen Hund von einem halben Jahr viel zu klein und mickrig bin«. Lachend ließ sich die Raupe von ihrem Grashalm auf die Nasenspitze des jungen Hundes fallen, und noch immer lachend antwortete sie: »Der Halm, auf dem ich gesessen habe, ist lang und dünn. Wenn du den Blick senkst, wirst du darunter aber auch noch einen Weiteren entdecken, der gerade einmal halb so lang ist, obwohl er aus der gleichen Erde wächst«. Der junge Hund tat, wie ihm geheißen, und schielte zuerst den kleinen, krummen Halm, dann wieder die Raupe an. »Wenn der Sommer gekommen ist«, fragte die Raupe, »welcher von beiden wird dann wohl am stattlichsten sein?« Ratlos schüttelte der junge Hund den Kopf. »Das kann ich, das kannst du nicht sagen, und auch keine Kuh auf der Weide«, sagte die Raupe, »entscheiden kann das nur die Zeit«.
»Das ist aber noch nicht alles«, gab der junge Hund hastig zurück. »Kaum, dass ich die Weiden hinter mir gelassen hatte – kaum, dass ich wieder auf dem Hof angelangt war –, lugten zwei feiste Schweine aus ihrem Pferch, die sich heimlich zuwisperten, dass ich es nie zu etwas bringen werde, weil ich für einen Hund von einem halben Jahr viel zu dünn und hässlich bin«. Auch darauf antwortete die Raupe wieder mit einem Lachen: »Der Halm, auf dem ich gesessen habe, ist lang und dünn. Wenn du den Blick hebst, wirst du darüber aber auch noch einen Weiteren entdecken, der dicker und fleischiger ist, obwohl er aus der gleichen Erde wächst«. Der junge Hund tat, wie ihm geheißen, und hob dabei den Kopf so ruckartig, dass es der Raupe nur mit Mühe gelang, sich an Ort und Stelle zu halten. Keuchend fuhr sie fort: »Welcher von beiden am Ende der Schönste sein wird, kann kein Schwein entscheiden. Das kann nur die Zeit«. Und damit ließ sie sich von der Nase des jungen Hundes fallen. Und verschwand.
Als der Sommer endlich gekommen war, hatte sich nicht nur die Raupe verwandelt. Auch der junge Hund sah ganz verändert aus. »Geduld verleiht Flügel«, dachte die Raupe bei sich, während sie dieselben stolz spreizte. Und später, viel später noch – als kein Schwein mehr im Pferch stand und keine Kuh auf der Weide – stellte der junge Hund schließlich fest, dass alles Gerede am Ende nur eines ist: »Wurst!«
Mit den allerbesten Wünschen – für Karma, Skye, Yuna, Scotty, Sonic und Miles.
© Johannes Willwacher