Die sechste Lebenswoche unserer Welpen: über Vertrauen, Verantwortung und Verbindlichkeit – und Entscheidungen, die kein Züchter leichtfertig trifft.
I need an easy friend,
I do, with an ear to lend.
Nirvana (1994)
Ich sitze im Studio, meine Gitarre in der Hand, und spiele die Akkorde, die mir seit Tagen durch den Kopf gehen. Chad fragt nach dem Titel des Songs, aber ich habe keinen. »Es geht um ein Mädchen«, sage ich schließlich, und das ist wahr. Das Mädchen ist Tracy, meine Freundin. Zusammen mit fünf Katzen, vier Ratten, zwei Kaninchen und einem Nymphensittich teilen wir uns in eine Zweiraumwohnung in Olympia, Washington State, keine Stunde von Aberdeen entfernt, wo ich aufgewachsen bin. Sie liebt mich, sorgt sich um mich. Wir streiten über die Miete. »Mach’ was«, sagt sie. Aber ich kann nicht.
Ich denke an die Nächte, die ich als Kind allein in meinem Zimmer verbracht habe, eingehüllt in die Stille, während draußen die Welt weiterging. Meine Eltern stritten, und ich fühlte mich wie ein Fehler, den niemand beheben konnte. Als sie sich scheiden ließen, zerbrach etwas in mir. Von da an war ich das Kind, das nie richtig passte, weder in der Schule noch in der neuen Welt meiner Eltern. Ich zog von einem Ort zum nächsten, immer auf der Suche nach einem Zuhause, das es nicht gab. Diese Wunden sitzen tief. Vertrauen fällt mir schwer, Nähe noch mehr. Ich bin unfähig, mich vollständig auf jemanden einzulassen, selbst wenn ich es will.
»About a Girl« ist mein Versuch, Tracy zu zeigen, was ich fühle, ohne es wirklich zu sagen. Es ist ein einfaches Lied, fast zu poppig für das, was wir sonst spielen, aber es enthält all die Unsicherheiten und das Bedürfnis nach Verbindung, das ich nicht in Worte fassen kann. Tracy weiß nicht, dass es für sie ist. Vielleicht wird sie es nie erfahren. Irgendwann einmal hat sie sich darüber beschwert, dass ich zig Lieder übers Wichsen, aber keines für sie schreiben kann.
Ich bin gefangen zwischen dem, was ich sein sollte, und dem, was ich bin. Meine Musik ist meine einzige Flucht, mein Weg, die Welt zu verstehen. Aber selbst das Mädchen, um das es geht, halte ich auf Distanz. Sage, dass sie mich nie richtig verstehen wird, so lange sie selbst keine Kunst macht. »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können«, hat Nietzsche geschrieben. Das beschreibt alles, was ich will. Ich will das Chaos, den Schmerz, weil ich ohne nicht existieren kann. Sie aber will Ordnung, will aufräumen. Mich zusammen mit der Wäsche zum Trocknen aufhängen. Will, dass ich Geld ranschaffe, einer geregelten Arbeit nachgehe, mich auf sie einlasse. Voll und ganz. Nähe aber macht mir Angst, Verantwortung noch mehr. Ich klammere mich an mein Chaos, weil es das Einzige ist, das mir gehört. Und doch sehne ich mich nach etwas, das ich nie hatte. Nach einer Familie, einem Zuhause. Jemandem, der es aushält mit mir.
Die sechste Lebenswoche unserer Welpen ist von ganz ähnlichen Gedanken geprägt. Welcher Welpe wird wo sein Zuhause finden? Welcher Mensch kann den Bedürfnissen und Besonderheiten am ehesten gerecht werden, die dieser oder jener Welpe mit sich bringt? Und wer ist – noch vor allem anderen – der Verantwortung gewachsen, Nähe und Beständigkeit zu schenken, ohne die erzieherische Konsequenz aus den Augen zu verlieren? Wer auf einen Welpen wartet, dem kann es mit dieser Entscheidung meistens gar nicht schnell genug gehen. Schließlich fragen Freunde und Familie unentwegt, welcher der Welpen es denn nun sein wird. Und schließlich möchte man sich nach den langen Wochen des Wartens doch endlich auch selbst auf seinen Welpen freuen. Dass ich mir als Züchter oftmals eher das Gegenteil wünsche – will heißen: nur noch einen Tag mehr –, lässt sich nicht nur durch den langen Weg der Entscheidungsfindung begründen, sondern auch durch die Beobachtungen, die dazu wesentlich sind.
»Gibt es denn einen Welpen, den du besonders süß findest?«, fragt mich eine der zukünftigen Welpenbesitzerinnen, als sie in der vergangenen Woche bei den Welpen im Garten sitzt. Fast unweigerlich muss ich die Nase rümpfen. Auch ihr fällt das auf. »Süß ist eine Vokabel, die ich gar nicht benutze«, gebe ich entschuldigend zurück. »Natürlich fallen mir bei diesem oder jenem Welpen gewisse Vorzüge auf, und natürlich stelle ich auch Überlegungen an, welche Welpen sich womöglich dazu eignen könnten, einmal ausgestellt zu werden. Dazu genügt es aber nicht, einen Welpen bloß süß zu finden, weil süß nur ein Gefühl beschreibt, das an der gezuckerten Oberfläche kratzt.« Das scheint sie zwar nicht vollends zu befriedigen, aber immerhin nachvollziehen zu können.
Die äußerlichen Merkmale sind für mich bei der Entscheidungsfindung aber nur zweitrangig. Deshalb nehme ich mir auch gerne die Zeit, um die Wesensentwicklung der Welpen sorgfältig zu beobachten. Dabei sind einerseits die Beobachtungen von Bedeutung, die ich im Zusammenspiel mit den Wurfgeschwistern und den erwachsenen Hunden mache. Andererseits will aber auch das Verhalten, das ein Welpe abseits der gewohnten Umgebung zeigt, beurteilt werden. Ist er eher aufgeschlossen oder zurückhaltend, erkundet er eher selbständig oder ist er deutlich am Menschen orientiert, lässt er sich leicht frustrieren oder schüttelt er scheinbar nicht zu bewältigende Situationen mit Leichtigkeit ab? Und wie aktiv zeigt er sich im Allgemeinen?
Vor Jahren hat sich eine Welpenkäuferin bei mir darüber beschwert, dass ich ihr den ruhigsten Welpen versprochen, die Hündin sich aber ganz anders entwickelt hätte. »Dazu muss man alle Welpen eines Wurfs in Beziehung setzen«, habe ich darauf damals ganz ohne schlechtes Gewissen entgegnet, »wenn sich alle Welpen eines Wurfs durch einen hohen Bewegungsdrang und ein ebenso hohes Aktivitätsbedürfnis auszeichnen, muss der ruhigste Welpe noch immer keine Schlaftablette sein«. Grundsätzlich gilt das für alle Welpen, für jeden Wurf, für jede Rasse. Für den Border Collie aber wohl im Besonderen.
»I need an easy friend, I do, with an ear to lend«, summe ich vor mich hin, als ich zu Beginn der sechsten Lebenswoche unserer Welpen allein im Garten sitze. Entscheidungen wollen getroffen werden, das ist gewiss. Während ich bei einigen Welpen schon ein mehr oder weniger klares Bild vor Augen habe, was sie für ein glückliches Hundeleben brauchen, fällt mir die Einschätzung bei einigen anderen schwerer. Das nicht, weil die Extreme in diesem Wurf besonders groß wären – ganz im Gegenteil, habe ich die sechs Welpen in den vergangenen Wochen als sehr ausgeglichen erlebt –, sondern weil sich mir noch nicht jede Eigenart vollends erschlossen hat. Wer also hält es mit wem aus? Wo ist die Familie, das Zuhause, nach dem sich jeder sehnt? Sechs Wochen sind kurz. Die Zeit ist da.
© Johannes Willwacher