Ein keltisches Geheimnis zum neunten Geburtstag: von der Zeit und dem Älterwerden – und allem, was jenseits von beidem liegt.
Saol na saol
Tús go deireadh
Tá muid beo
Go deo
Enya (1987)
Eoin lag wach. Das Feuer vom Vorabend war längst heruntergebrannt, und in der in den Hügel gehauenen Behausung herrschte eine tiefe Dunkelheit. Dieselbe – bleischwer, aber namenlos – fühlte er auch auf seiner Brust lasten. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb sich Eoin an diesem besonderen Morgen überhaupt aus dem Bett erhob und leise ins Freie schlich, um auf der windschiefen Bank vor seiner Behausung zu sitzen und auf das erste Licht zu warten.
Der Sommer hatte sich noch nicht vollends verabschiedet, doch herrschte in den frühen Morgenstunden bereits eine schneidende Kälte; das spürte er trotz des Umhangs, den er auf dem Weg nach draußen mitgenommen hatte, um sich darin einzuwickeln. Doch dann war er so tief in seinen Gedanken versunken, dass ihm die Kälte erst dann ins Bewusstsein drang, als die Sterne fast verblasst waren und am Horizont ein leuchtender Streif erschien, während sich in der Dämmerung das erste Vogelgezwitscher erhob. »Fünfundvierzig Sommer«, dachte der bärtige Druide bei sich, und zog den grauen Umhang noch ein wenig fester um seinen dünnen, ausgezehrten Leib, »beinahe jeden überlebt, beinahe jedes der geliebten Häupter mit Erde überhäuft, und auch das eigene neigt sich bereits dem Grabe zu«.
In diesem Moment überkam ihn eine plötzliche Müdigkeit. Seine Augenlider wurden schwer, und noch bevor er es recht begriff, sank Eoin in einen tiefen Schlaf, wie eine Brise, die seinen Geist mit sich nahm. In seiner Vision erschien ihm eine gewaltige Eiche, deren Zweige sich bis zum Himmel erstreckten und deren Wurzeln tief in die Erde reichten. Dort, wo die Wurzeln sich um einen moosbewachsenen Felsen gewunden hatten, lag ein Hund. Seine graue Schnauze und müden Augen zeugten von uraltem Wissen. Als der Druide sich dem Hund näherte, hob derselbe den Kopf und fing mit ruhiger, weiser Stimme an zu sprechen.
»Eoin, du hast viele Sommer und Winter erlebt. Hast du dich jemals gefragt, was jenseits der Zeit liegt?«
Eoin, erstaunt über die sprechende Kreatur, antwortete zögernd: »Ich habe oft darüber nachgedacht. Die Zeit ist wie ein Fluss, der nie stillsteht, der uns fortträgt. Aber was liegt jenseits des Flusses? Was bleibt, wenn der Herbst kommt, wenn die Jahre vergehen?« Der Hund nickte bedächtig. »Die Zeit ist ein Geheimnis, das selbst die klügsten Druiden nicht vollständig ergründen können. Doch es gibt Wege, das Unbekannte zu begreifen. Denk an die Zahl Neun, Druide. Was sagt sie dir?«
Eoin legte die Stirn in Falten. »Drei mal drei, die heilige Zahl«, murmelte er, während seine Gedanken zugleich in die Vergangenheit und die Zukunft wanderten. »Sie trägt die Göttlichkeit in sich. Die Fünf, die die Essenz unserer Existenz erfasst, die Verbindung von Zeit und Raum. Und die Vier, die uns Orientierung gibt, die Himmelsrichtungen. Aber warum ist die Neun so besonders? Und was bedeutet das für mich? Für mein Leben?«
Der Hund, müde von den Jahren, erhob sich schwerfällig und legte seine Schnauze in Eoins Hand. Der ganze Ort atmete eine uralte Ruhe aus, als ob der Atem des Waldes selbst die Zeit eingefangen hätte. »Die Neun«, sprach der Hund, »ist mehr als nur eine Zahl. Sie ist das Gleichgewicht und die Harmonie des Universums. Sie zeigt dir, dass alles miteinander verbunden ist und dass der Kreis des Lebens niemals endet«. Dann schwieg er.
»Deine Jahre mögen begrenzt sein, Druide«, fuhr der Hund fort, während sein Atem sanft gegen Eoins Hand strich, »aber das Wissen und die Weisheit, die du weitergibst, werden weiterleben. In der Neun findest du nicht nur das Geheimnis des Universums, sondern auch die Hoffnung auf Unsterblichkeit durch die Vollendung und das Vermächtnis, das du hinterlässt.«
Mit diesen Worten schloss der Hund seine alten Augen, und Eoin erwachte aus seiner Vision. Die Wärme der Schnauze des Hundes verweilte noch in seiner Hand, und gleichwohl spürte er, wie sich die schwere Last in seiner Brust löste. Er verstand nun, dass seine eigenen Jahre zwar gezählt waren, die Weisheit und das Wissen, das er weitergab, aber ewig Bestand haben würden. Dass die Neun dafür Sorge tragen würde, dass auf jeden Herbst ein Frühling, auf jeden Winter ein Sommer folgte. Lange noch, nachdem sein eigener Name vergessen war.
In den neun Jahren, die ihr mit euren Menschen geteilt habt, ist viel geschehen. Ihr seid vom Welpen zum Junghund herangewachsen, habt gemeinsam mit euren Menschen viele schöne Erinnerungen angehäuft, und euch – der eine früher, der andere später – das eine oder andere graue Haar um die Schnauze wachsen lassen. Ob damit auch die Weisheit in euch gewachsen ist? Ob ihr zufrieden euren Platz im ewigen Kreis gefunden habt?
Zum neunten Geburtstag die allerbesten Wünsche! Auf dass auf diesen Herbst noch viele weitere folgen – und euer Name noch so manchen Sommer überlebt.
© Johannes Willwacher