Ein Weihnachtsmärchen in sechs Bildern

Text und Bild (Copy­right): Johan­nes Willwacher

Light up, light up, as if you
have a choice, even if you cannot
hear my voice, I’ll be right
bes­i­de you dear.
Run, Snow Pat­rol (2004)

Der alte Hund war tot, damit wol­len wir anfan­gen. Drei Tage vor dem gro­ßen Fest hat­te er sich am Abend vor dem Kamin zusam­men­ge­rollt, und eben dort hat­te man ihn in den Mor­gen­stun­den des neu­en Tages auch gefun­den – erlo­schen, so wie das Feu­er. Schnell hat­te es sich unter den Tie­ren auf dem Hof her­um­ge­spro­chen, dass der alte Hund nicht mehr leb­te, und fast noch schnel­ler hat­ten die Herr­schaf­ten dafür gesorgt, dass unter den Wei­den im Gar­ten ein Loch aus­ge­ho­ben wur­de, in dem man den Leich­nam schwe­ren Her­zens begrub. Als das Weh und Ach aus den Stäl­len ver­klun­gen und auch das Geschnat­ter der Gän­se still gewor­den war, stan­den die Hün­din und der jun­ge Rüde unter den Wei­den zusam­men und blick­ten stumm auf den brau­nen Erd­hü­gel, der bereits unter dem fri­schen Schnee zu ver­schwin­den begann. »Er war schwach«, sag­te die Hün­din schließ­lich, »zu schwach um dem Rufen der Anders­welt zu wider­ste­hen«, und nach­dem sie ihren Blick zum grau­en Win­ter­him­mel geho­ben und eine Wei­le nach­denk­lich geschwie­gen hat­te, setz­te sie noch kaum hör­bar hin­zu, dass der alte Hund nun für alle Zei­ten mit der wil­den Jagd über den Him­mel zie­hen wer­de. Dann ging sie und ließ den jun­gen Rüden im Schnee­trei­ben allein.

Border Collie, Weihnachtsmärchen, Illustration: Johannes Willwacher

Ein Jahr war ver­gan­gen, seit­dem der alte Hund sich den Wel­pen zum Schü­ler gemacht hat­te. Kaum dass der Schnee des let­zen Win­ters geschmol­zen und das Vieh aus den Stäl­len zurück auf die Wei­den gezo­gen war, hat­te auch er sich mit dem Klei­nen hin­aus­ge­wagt und ihm man­ches zu den­ken gege­ben. Dass sich selbst das dümms­te Scha­fe ger­ne wie­der der Her­de anschloss, wenn man es nur höf­lich dar­um bat, etwa, oder dass die glei­che Höf­lich­keit einem nicht nur das Wohl­wol­len der dicken Küchen­magd, son­dern bis­wei­len auch einen Wurst­zip­fel ein­brach­te – wenn man sich nur die Pfo­ten sau­ber abge­streift hat­te, bevor man das Haus betrat. Als der Som­mer schließ­lich in den Herbst über­trat und sich das Laub an den Bäu­men bunt zu fär­ben begann, war aus dem Wel­pen so ein jun­ger Rüde gewor­den, der den alten Hund noch an Grö­ße über­rag­te, und der auf alle Fra­gen des Lebens die rich­ti­gen Ant­wor­ten fand. »Von der wil­den Jagd«, erin­ner­te der jun­ge Rüde sich nun am Grab des Alten, »und von den Hun­den, die mit ihr zie­hen, hat er mir aber nichts gesagt«. Ob wohl eines der ande­ren Tie­re ihm sagen konn­te, was es damit auf sich hatte?

Border Collie, Weihnachtsmärchen, Illustration: Johannes Willwacher

Dem Gedan­ken fol­gend, such­te er also zuerst den Schaf­stall auf, der sich auf einer sump­fi­gen Wei­de unweit des Hofes befand, bekam dort aber nur zu hören, dass man davon nichts ver­stand. »Mä-ärchen, die sich die Me-enschen erzä-ählen«, sei­en für ein Schaf nur dann von Belang, wenn es selbst dar­in vor­kä­me, ließ ihn ein kräf­ti­ger Bock wis­sen, der abseits hin­ter einem Gat­ter ein­ge­pfercht stand, »wenn der Jä-äger ein Schä-äfer wä-äre, dann sä-ähe das wohl anders aus«. Auch das Pferd, das er bald dar­auf auf­such­te, konn­te ihm nicht die ersehn­te Ant­wort schen­ken. Gelang­weilt kau­te es auf einem lan­gen Stroh­halm her­um und bläh­te die Nüs­tern. »Vor Jah­ren haben die Herr­schaf­ten ein­mal zur Fuchs­jagd ein­ge­la­den«, gab es mit lau­tem Schnau­ben zurück, »und auch man­cher Hund ist dabei mit­ge­lau­fen«. Wäh­rend der jun­ge Rüde sich schon bei­na­he am Ziel sei­ner Suche geglaubt und freu­dig mit der Rute gewe­delt hat­te, schüt­tel­te das Pferd bloß den Kopf. »Stun­de um Stun­de ist die kläf­fen­de Meu­te durch die Wäl­der gehetzt, den Him­mel hat aber – so viel ist gewiss – kein Hund jemals beschrit­ten«, und damit wand­te sich auch das Pferd von ihm ab und wie­der dem zink­grau­en Hafer­ei­mer zu.

Border Collie, Weihnachtsmärchen, Illustration: Johannes Willwacher

Ent­täuscht trab­te der jun­ge Rüde zurück ins Haus, das ihm trotz der vie­len Lich­ter kalt und ver­las­sen erschien. Im Kamin­zim­mer schließ­lich fand er sei­ne Mut­ter schla­fend in dem abge­wetz­ten Ohren­ses­sel lie­gen, über den er sich schon als Wel­pe man­ches Mal auf das schma­le Fens­ter­brett geschwun­gen und die Hüh­ner im Hof beob­ach­tet hat­te – in dem sich auch der alte Hund ger­ne nie­der­ge­las­sen hat­te, so lan­ge es sei­ne stei­fen Kno­chen noch zulie­ßen. »Was ist die wil­de Jagd?«, frag­te der jun­ge Rüde nun in das Halb­dun­kel des Zim­mers hin­ein. Die Hün­din hob den Kopf. »Eine Geschich­te, die wahr und erfun­den ist, eine, die sich die Men­schen seit ewi­gen Zei­ten erzäh­len«, sag­te sie und über­kreuz­te bedäch­tig die Pfo­ten. »Was erzäh­len sich die Men­schen denn?«, frag­te der jun­ge Rüde wie­der und schob sei­ne Schnau­ze sanft in das war­me Fell der Hün­din hin­ein. »Wenn das alte Jahr zu Ende geht, dann ste­hen die Tore der Anders­welt weit offen, und in zwölf Näch­ten gehört der Nacht­him­mel ganz dem Trei­ben der wil­den Jagd. Pfer­de mit stamp­fen­den Hufen, wei­ße Frau­en mit wehen­dem Haar, Men­schen, die vor ihrer Zeit den Tod gefun­den, und Hun­de, die ihm ins Auge geblickt haben, jagen dann laut wie der Sturm­wind durch die Nacht. Die Men­schen glau­ben, dass, wer zu Mitt­win­ter allein in den Him­mel blickt, vor Trau­rig­keit mit­ge­ris­sen wird, und machen des­halb alle Häu­ser hell und warm. Im Mitt­win­ter soll nie­mand allei­ne blei­ben, des­halb zün­den sie drin­nen die Lich­ter an. Für die Men­schen, die ihnen lieb sind, für die, denen sie ver­zei­hen wol­len, für die, die sie ver­lo­ren haben, und viel­leicht auf für man­chen her­ren­lo­sen Hund.« Mit geschlos­se­nen Augen sog der jun­ge Rüde den ver­trau­ten Geruch sei­ner Mut­ter ein, die nur kurz schwieg und bald wie­der zu spre­chen begann. »Wenn die Tore der Anders­welt offen ste­hen, dann mag aber viel­leicht auch einer, der vor­aus­ge­gan­gen ist, zurück­keh­ren und sei­ne Liebs­ten besu­chen, dann hetzt er viel­leicht nur des­halb mit der wil­den Jagd, weil es ihn immer wie­der zurück nach Hau­se zieht«, sag­te sie. Und damit war alles gesagt.

Border Collie, Weihnachtsmärchen, Illustration: Johannes Willwacher

Das gro­ße Fest kam und ging, so wie die Men­schen kamen und gin­gen – und in jeder Nacht war­te­te der jun­ge Rüde unter dem Ster­nen­him­mel dar­auf, dass sich der alte Hund ihm noch ein letz­tes Mal zeig­te. Er war­te­te und war­te­te. Aber nichts geschah. Weh­mü­tig dach­te er an all die Din­ge zurück, die sie gemein­sam erlebt hat­ten – an den Regen des Früh­jahrs, die gol­de­nen Fel­der des Som­mers, an den stei­ni­gen Hügel, auf dem sie im Herbst noch schwei­gend bei­ein­an­der geses­sen hat­ten – und gera­de als das Mond­licht güns­tig durch die kah­len Äste der Wei­den fiel, mein­te er einen Schat­ten im ver­schnei­ten Gar­ten wan­dern zu sehen. Einen, der lächel­te. Und der nur ver­schwand, um für immer zu bleiben.

Border Collie, Weihnachtsmärchen, Illustration: Johannes Willwacher

Wir wünschen allen das beste, hoffnungsvollste Weihnachtsfest!

Johan­nes und Dirk
Nell, Ida, Zion und Heidi
im Dezem­ber 2019

Die Geschich­te vom alten Hund – unser letzt­jäh­ri­ges Weih­nachts­mär­chen – fin­det sich hier.

© Johannes Willwacher