Heute hätten wir Idas zehnten Geburtstag gefeiert – der erste, den wir nicht gemeinsam begehen dürfen. Über Pinselstriche und Erinnerungen. Und unvollständige Gefühle.

I have to do my best to recall
that I’m thank­ful that I held you at all.
If I Can’t Have You, Sara Bareil­les (2019)

Der Kar­ton mit den Acryl­far­ben hat fast drei Jah­re ver­schlos­sen auf dem Dach­bo­den gestan­den, als ich ihn am ers­ten Weih­nachts­tag die Trep­pen hin­un­ter tra­ge und mich dar­an mache, Pin­sel und Far­ben auf dem Ess­tisch aus­zu­brei­ten. Die bun­ten Far­ben in den klei­nen Schraub­glä­sern und Tuben sind alle­samt ver­trock­net – nichts, das sich mit Was­ser noch stre­cken lie­ße –, also packe ich alles bis auf die bei­den gro­ßen, unbun­ten Fla­schen zurück in den Kar­ton und den­ke bei mir, dass das aus­rei­chen muss. Aus dem Gedächt­nis begin­ne ich mit locke­rer Hand die Umris­se zu skiz­zie­ren – der Blei­stift ist stumpf und schabt über das Papier. Da ist der Kopf. Da sind die Schnau­ze und die Ohren. »Da haben die Dor­nen Rosen getra­gen«, singt ein Frau­en­chor dazu. 

»Die Stim­me ist das Ers­te, was ver­ges­sen wird«, habe ich vor Jah­ren in einem Zei­tungs­ar­ti­kel zur Trau­er­ar­beit gele­sen, und mich gefragt, an was ich mich selbst noch erin­nern kann. Von den Groß­el­tern, von den Ver­wand­ten, von den Freun­den, die zu früh gegan­gen sind. Aber auch von den Hun­den, die mei­nen Lebens­weg beglei­tet haben. Mei­ne Erkennt­nis? Nicht nur die geis­ti­ge Unschär­fe nimmt zu, je tie­fer ich in mei­nem Gedächt­nis gra­ben muss, son­dern auch die Unsi­cher­heit, wie zuver­läs­sig die­se Erin­ne­run­gen sind. Dar­an, wie die Stim­me mei­nes vor mehr als drei­ßig Jah­ren ver­sto­be­nen Groß­va­ters geklun­gen hat, kann ich mich genau­so wenig erin­nern, wie an das Bel­len des Hun­des, der vor kaum mehr als zehn Jah­ren aus mei­nem Leben ver­schwun­den ist. 

Bei Ida sind es gera­de ein­mal neun Mona­te. Und auch wenn die Erin­ne­run­gen an guten Tagen noch frisch und nah und leb­haft wir­ken, beginnt man­ches doch schon zu ver­blas­sen. »Wie hat ihr Fell gero­chen, wenn wir trief­nass aus dem Regen kamen?«, fra­ge ich mich. Oder: »Wie hat sich ihre Zun­gen­spit­ze ange­fühlt, wenn sie mir am Mor­gen mit Hin­ga­be die Ohren putz­te?« Und: »An was erin­ne­re ich mich über­haupt?« Ich erin­ne­re mich dar­an, dass heu­te ihr zehn­ter Geburts­tag gewe­sen wäre. Dar­an, dass sie für eine kur­ze Wei­le mein Hund gewe­sen ist. Und an das Gefühl, das mir ihre Gegen­wart geschenkt hat. Das mein Leben genau­so unvoll­stän­dig zurück­lässt, wie die­ses Bild.

Ich lege den Pin­sel aus der Hand. Nichts könn­te bes­ser passen.

© Johannes Willwacher