Über Worte und die Schwierigkeit, die Richtigen zu finden. Und warum man Barmherzigkeit am besten von Hunden lernen kann.

Ein Pferd und ein Hund waren befreun­det. Und jeder woll­te dem Freund eine Freu­de machen. So spar­te sich der Hund die bes­ten Kno­chen vom Mun­de ab und schenk­te sie dem Pferd. Und das Pferd ver­zich­te­te auf das bes­te Heu und schenk­te es dem Hund. Und so lit­ten sie bei­de Hunger.

»Ich wer­de nie­mals zulas­sen, dass man dich in ein Alters­heim steckt«, steht auf dem Zet­tel geschrie­ben, den mein Vater mir in die Hän­de drückt. Eng rei­hen sich die Buch­sta­ben anein­an­der, die Blei­stift­spur ist breit und an den Rän­dern aus­ge­wischt – und obwohl es mir größ­te Mühe berei­tet, das Geschrie­be­ne zu ent­zif­fern, ist es gera­de der Zusatz, der kaum einen Fin­ger breit von den drei kur­zen Zei­len abge­setzt ist, der mich erken­nen und erschau­dern lässt. »Mein Enkel Johan­nes, acht Jah­re alt.« Mein Vater erzählt, dass er die Notiz in einem Schuh­kar­ton gefun­den hat, in der Die­ses und Jenes von mei­nem Groß­va­ter auf­be­wahrt wor­den sei, und dass mein Groß­va­ter nach dem Tod mei­ner Groß­mutter häu­fig davon gespro­chen habe, die Woh­nung im Haus mei­ner Eltern gegen einen Alters­heim­platz ein­tau­schen zu wol­len. Mal aus Wut. Mal aus Selbst­mit­leid. Mal aus dem Bedürf­nis her­aus, mehr Auf­merk­sam­keit zu bekom­men. Und obschon mein Groß­va­ter seit mehr als zwan­zig Jah­ren tot ist, spü­re ich in die­sem Moment eine Hand, die sich mir unsicht­bar auf die Schul­ter legt. Wie nennt sich die­ses Gefühl?

Border Collie im Schnee auf der Fuchskaute im Westerwald
28|12|2020 – Schnee­spa­zier­gang auf der Fuchs­kau­te: Zion

In den ver­gan­ge­nen Wochen hat mich ein Gedan­ke immer wie­der umge­trie­ben: der Gedan­ke, was Barm­her­zig­keit ist. Grund dafür war die Losung für das kom­men­de Jahr – ein Bibel­vers, der all­jähr­lich von einem öku­me­ni­schen Gre­mi­um aus­ge­wählt wird –, und die Gewohn­heit, mei­ne Neu­jahrs­wün­sche an eben jenem Vers aus­zu­rich­ten. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren hat das gut geklappt, denn zumeist las­sen mir die Bibel­wor­te so viel Spiel­raum, dass sie sich auch leicht in einen ande­ren – weni­ger glau­bens­schwe­ren – Zusam­men­hang über­füh­ren las­sen. Einen, der mir eher liegt und in dem auch ein Hund sei­nen Platz fin­den kann. In die­sem Jahr aber sah das anders aus. »Was ist Barm­her­zig­keit über­haupt?«, frag­te ich mich. Und: »Wie sollst du das glaub­haft aus dem eige­nen Leben und Erle­ben ablei­ten – so kalt und abwei­send, wie du dich selbst oft genug zeigst?«

Border Collie Hündin im Schnee auf der Fuchskaute im Westerwald
28|12|2020 – Schnee­spa­zier­gang auf der Fuchs­kau­te: Nell

Bis mir mein Vater am zwei­ten Weih­nachts­fei­er­tag jenen Zet­tel in die Hän­de drück­te, bin ich – zuge­ge­ben – ziem­lich hilf­los um den Begriff der Barm­her­zig­keit her­um­ge­schli­chen. Habe mir das Wort von allen Sei­ten ange­schaut, es nach links, nach rechts gedreht, zur Nach­sicht und zum Mit­leid ver­folgt. Habe ver­sucht zu ver­ste­hen, aber immer weni­ger ver­stan­den. Mit dem besag­ten Zet­tel in den Hän­den ver­stand ich aber plötz­lich alles. »Viel­leicht meint Barm­her­zig­keit nicht bloß mit­zu­füh­len, son­dern mit mei­nem Han­deln dafür zu sor­gen, dass jemand neue Per­spek­ti­ven, neue Lebens­mög­lich­kei­ten erhält?« 

Ein Hund kann das. Ganz ohne Wor­te. Ein­fach, indem er da ist. Indem er sei­ne Schnau­ze in dei­nen Schoß legt und dir wort­los beweist: »Das wird schon wie­der!« Viel­leicht neh­men wir uns ein Bei­spiel dar­an. Und sind da. Ohne zu erwar­ten, ohne etwas ein­zu­for­dern, ohne nur nach uns selbst zu sehen. Im neu­en Jahr haben wir 365 Chan­cen dazu.

2020
Unser Jahr in Bildern

© Johannes Willwacher