8 Wochen alter Border Collie Welpe
08|05|2021 – Broad­me­a­dows Halo

Eine weitere Geschichte. Eine Letzte, vielleicht. Eine, die in diesem Wurftagebuch für sich steht – bevor das Leben für die Welpen ganz eigene Geschichten schreibt.

»Und dann leb­ten sie glück­lich und zufrie­den bis an ihr Ende«, schloss der Mann sei­ne Geschich­te. Von den Gesich­tern der Sechs, die sei­nen Wor­ten gebannt gelauscht hat­ten, lie­ßen sich noch deut­lich die Gefüh­le able­sen, mit denen sie dem Hel­den der Geschich­te auf sei­nem Weg durch die Welt gefolgt waren. In den Augen des einen fun­kel­te etwa die Sehn­sucht nach dem Aben­teu­er, wäh­rend in dem offe­nen Mund des ande­ren noch die gespann­te Erwar­tung ihren Wider­hall fand. Die­ser war es dann auch, der als Ers­ter sei­ne Stim­me wie­der­fand und mit einem lau­ten »Noch mal, noch mal!« die all­um­fas­sen­de Stil­le durchbrach.

Von dem Spatz, der ein Adler sein wollte

Von dem Rufen des einen beflü­gelt, stimm­ten auch alle Übri­gen in die dar­ge­brach­te For­de­rung ein, spran­gen von ihren Plät­zen auf und tanz­ten in einem wil­den Rei­gen um den Mann in der Mit­te her­um. Jener leg­te bloß ange­strengt die Stirn in Fal­ten, dann den aus­ge­streck­ten Zei­ge­fin­ger an den Mund: »Wollt ihr denn wirk­lich immer und immer wie­der die glei­chen Geschich­ten hören? Wie oft habe ich euch nun schon von dem ängst­li­chen Wolf und dem muti­gen Hasen, von dem Spatz, der ein Adler sein woll­te, erzählt?«

8 Wochen alter Border Collie Welpe
08|05|2021 – Broad­me­a­dows Hallelujah

Nach­ein­an­der ver­stumm­ten die Sechs und wand­ten dem Mann ihre Bli­cke zu. »Wäre es nicht viel schö­ner her­aus­zu­fin­den, wel­che groß­ar­ti­gen Geschich­ten in die Bücher von jedem von euch ein­ge­schrie­ben sind?«, hob der Mann wie­der zu spre­chen an, als end­lich jeder zu sei­nem Platz zurück­ge­fun­den hat­te. Auch dies­mal spra­chen die Gesich­ter der Sechs Bän­de, bloß dass auf jedem die glei­che Ver­wun­de­rung geschrie­ben stand. »Wir besit­zen aber doch gar kei­ne Bücher, Herr«, schlug sich eben jene in Wor­ten nie­der, »kei­ner von uns hat jemals auch nur ein ein­zi­ges Buch besessen!«

Eines, das ihr immer mit euch herumtragt

Jetzt war es der Mann, der von sei­nem Platz auf­stand und schwei­gend – Run­de um Run­de – in dem dunk­len Raum umher­ging. Immer dann, wenn er dabei das hohe Fens­ter pas­sier­te, fiel ein schma­ler Strei­fen des Mond­lichts auf sein Gesicht und ließ sei­ne Züge wie ein­ge­fro­ren leuch­ten. »Jeder von euch hat am Tag sei­ner Geburt sein eige­nes Buch bekom­men«, sag­te er schließ­lich und blieb vor der mäch­ti­gen Stand­uhr ste­hen, deren glän­zen­des Pen­del völ­lig unbe­ein­druckt wei­ter schwang, »eines, das ihr schon, ganz ohne es zu wis­sen, mit euren eige­nen Geschich­ten zu Fül­len begon­nen habt – eines, das ihr immer mit euch her­um­tragt, auch ohne es zu sehen«.

8 Wochen alter Border Collie Welpe
08|05|2021 – Broad­me­a­dows Hig­her Love

Viel­stim­mig ver­such­te sich erneut die Ver­wun­de­rung Gehör zu ver­schaf­fen, und jeder der Sechs plap­per­te mun­ter drauf­los. »Was man nicht sehen kann, das lässt sich auch nicht beschrei­ben!«, schluss­fol­ger­te etwa der Ers­te, wäh­rend der Zwei­te in einem fort »Das kann doch gar nicht sein!« skan­dier­te. »Lügen­ge­schich­te, Lügen­ge­schich­te!« Dar­in waren sich alle einig. Der Mann lächel­te bloß, hielt das Pen­del der Uhr an und wand­te sich dar­auf zu den Sech­sen um.

Ein kleines Stück unter seinem Herzen

»Jeder von euch hat am Tag sei­ner Geburt sein eige­nes Buch bekom­men«, sag­te er noch ein­mal, »und wenn ihr es sucht, dann wer­det ihr es an genau die­ser Stel­le fin­den«. Er hob die Hand und wies auf sei­ne Brust, ein klei­nes Stück unter sei­nem Her­zen. »Alles, was wir gemein­sam erlebt und gese­hen haben, ist dar­in fest­ge­hal­ten, und alles, was ihr noch erle­ben und sehen sollt, wird eben­so Teil der Geschich­te wer­den. Vor allen Din­gen aber die Men­schen, die euren Weg kreu­zen. Sol­che, die gütig und groß­zü­gig sind, aber auch sol­che, die sich häss­lich und gemein ver­hal­ten. Sol­che, die euch ein Leben lang auf Hän­den tra­gen, aber auch sol­che, die euch nur ein kur­zes Stück des Wegs beglei­ten. Sol­che, die euch jede Sei­te eures Buchs begie­rig umblät­tern las­sen wer­den, aber auch sol­che, die rein gar nichts dazu bei­zu­tra­gen haben, weil sie kein Wort verstehen.«

8 Wochen alter Border Collie Welpe
08|05|2021 – Broad­me­a­dows High Hopes

Eine tie­fe Stil­le erfüll­te den Raum. Schwei­gend kehr­te der Mann zu der Stand­uhr zurück, öff­ne­te den knar­ren­den Uhren­kas­ten und das Pen­del begann von Neu­em zu schwin­gen. »Ach­tet immer gut auf euer Buch, wenn ihr am Mor­gen mein Haus ver­lasst, lasst nie­mals zu, dass es euch jemand aus den Hän­den nimmt und eure guten Sei­ten schwärzt«, sag­te er seuf­zend mit sor­gen­schwe­rem Blick, »auf dem Ein­band steht Ver­ant­wor­tung geschrie­ben, und wenn eine Sei­te fehlt, dann gibt es kein Zurück«. Dann wink­te er die Sechs her­an und brei­te­te die Arme aus. Und nach einer letz­ten Umar­mung mach­ten sich alle Sechs im Mor­gen­grau­en auf den Weg, um ihre eige­nen Geschich­ten zu finden.

Eigent­lich woll­te ich mich beim Schrei­ben des Wurf­ta­ge­buchs dies­mal dar­auf beschrän­ken, den All­tag wäh­rend der Wel­pen­auf­zucht mög­lichst unge­fil­tert zu wie­der­zu­ge­ben. Kurz vor dem nahen­den Aus­zug der Wel­pen kam mir dann aber doch noch die­se klei­ne Geschich­te in den Sinn – eine, die hart­nä­ckig dar­auf bestan­den hat, erzählt zu wer­den. Weil Geschich­ten im All­ge­mei­nen äußerst nach­tra­gen­de Geschöp­fe sind, und den, der sie so sträf­lich ver­nach­läs­sigt hat, bevor­zugt nachts heim­su­chen, um ihm mit schreck­li­chen Klau­en und Zäh­nen zu Lei­be zu rücken, habe ich dem schließ­lich nachgegeben.

© Johannes Willwacher