Border Collie Hündinnen mit 6 Monaten
09|09|2021 – Fate und Halo

Überall Gespenster: über die Hirnentwicklung beim Junghund – und warum deshalb auch so mancher Spaziergang zum Gruseltripp wird.

Jesus loves me – oh, yes he does.
Whit­ney Hous­ton (1992)

Zwei feuch­te Nasen drü­cken sich unge­dul­dig gegen den Netz­stoff, als sich die Heck­klap­pe öff­net. Kaum, dass der Reiß­ver­schluss ein­mal an den Rän­dern ent­lang gesurrt ist, schiebt sich die ers­te der bei­den knapp sechs Mona­te alten Jung­hün­din­nen aus der Box und hebt den Blick. »War­te«, heißt es dann. Und auch wenn die­sel­be oft­mals zu über­hö­ren scheint, was ihr gehei­ßen wor­den ist, war­tet sie gedul­dig ab, bis sich eine Hand unter ihren Bauch gescho­ben und sie aus dem Kof­fer­raum her­aus­ge­ho­ben hat. Das Glei­che wie­der­holt sich mit der Zwei­ten. Dann ste­hen end­lich bei­de ange­leint auf dem Wald­park­platz, von dem aus ein gut halb­stün­di­ger Rund­weg ein­mal durch das Wäld­chen führt – und nach­dem die Ers­te noch ein­mal ver­geb­lich ver­sucht hat, sich das stö­ren­de Geschirr abzu­strei­fen, ist man auch bereit, den Spa­zier­gang anzu­tre­ten. Weit kommt man aller­dings nicht. War­um? Weil ein nack­ter Mann am Wald­rand herumhängt.

6 Monate alte Border Collie Hündinnen in der Heide
04|09|2021 – Fate und Halo

Halo ist es, die den Nack­ten zuerst bemerkt. Und weil sie trotz – oder viel­leicht auch gera­de wegen – ihres jun­gen Alters schon ziem­lich genau ver­stan­den hat, dass nack­te Män­ner nicht ein­fach so vor dem Wald her­um­hän­gen dür­fen, schiebt sie sich sogleich die Ärmel ihrer – wahr­schein­lich nur ein­ge­bil­de­ten – Leder­kut­te hoch und schreit aus Lei­bes­kräf­ten: »Komm’ da run­ter, aber sofort!« Der nack­te Mann indes­sen wür­digt die kläf­fen­de Hün­din kei­nes Bli­ckes. Ganz im Gegen­teil, hängt er mit Lei­dens­mie­ne wei­ter den Wol­ken nach, die über sei­nen dor­nen­be­kränz­ten Kopf hin­weg­zie­hen. »Kanns­te nich’ oder wills­te nich’, Bürsch­chen?«, setzt die jun­ge Hün­din nach, und schickt sich schon an, den Holz­bal­ken zu erklim­men, an dem man den Nack­ten auf­ge­han­gen hat – scheut dann aber doch ängst­lich zurück. »Das Glei­che hat sich erst ges­tern mit einem Stra­ßen­schild abge­spielt«, sagt der Mensch ent­schul­di­gend zu dem Schmer­zens­mann, wäh­rend er mit der fla­chen Hand besänf­ti­gend über das Holz streicht. Das besänf­tigt schließ­lich auch die kläf­fen­de Hün­din. Und end­lich geht es weiter.

Überall sind Gespenster

Wahr­schein­lich kann fast jeder Hun­de­be­sit­zer von ähn­li­chen Erleb­nis­sen in der Jugend­ent­wick­lung berich­ten. Vie­le Din­ge, mit denen der Hund im All­tag längst selbst­ver­ständ­lich umge­gan­gen ist, schei­nen urplötz­lich eine Bedro­hung dar­zu­stel­len. Bei dem einen kann das eine Müll­ton­ne sein, die auf dem Geh­weg steht – eine, die schon immer dort gestan­den hat, nun aber unbe­dingt ver­bellt wer­den muss –, bei dem ande­ren eine Plas­tik­tü­te, die sich flat­ternd im Gebüsch ver­fan­gen hat. Die emp­find­li­chen Reak­tio­nen, die beim Jung­hund durch ver­schie­dens­te Umwelt­rei­ze aus­ge­löst wer­den kön­nen, las­sen sich durch ein Ungleich­ge­wicht in der Hirn­ent­wick­lung erklä­ren. Im Lau­fe der Jugend­ent­wick­lung gewinnt der han­deln­de Teil des Gehirns die Ober­hand gegen­über dem den­ken­den Teil: die Amyg­da­la ist zu die­sem Zeit­punkt nicht nur wesent­lich grö­ßer als der prä­fron­ta­le Cor­tex, sie ist auch schon viel wei­ter aus­ge­reift. Poten­zi­ell bedroh­li­che Situa­tio­nen wer­den wäh­rend der Ado­les­zenz also kaum noch ratio­nal ein­ge­schätzt, viel mehr wer­den sie emo­tio­nal bewer­tet. Dar­aus folgt nicht nur ein viel hef­ti­ge­res Angst- und Aggres­si­ons­ver­hal­ten, son­dern auch grund­sätz­lich eine gestei­ger­te Reak­ti­vi­tät. »Über­all sind Gespens­ter«, hat man schon man­chen Hun­de­be­sit­zer des­halb sagen hören. Aber wie kommt man dem bei?

Border Collie Hündinnen mit 6 Monaten
25|08|2021 – Halo und Fate

Wich­tig ist vor allem, den Hund nicht durch fal­sche Auf­merk­sam­keit in sei­nem Ver­hal­ten zu bestä­ti­gen. Will hei­ßen, der Hund soll­te weder zu deut­lich gemaß­re­gelt, noch über­for­sorg­lich in Schutz genom­men wer­den. Ich habe mir des­halb ange­wöhnt, in sol­chen Situa­tio­nen die Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men – und dem unsi­che­ren Jung­hund ein­deu­tig zu ver­mit­teln, dass er sich auf mich viel bes­ser ver­las­sen kann, als auf die Brü­der der Nacht­wa­che in sei­nem Kopf. Wo der Mensch näm­lich bloß die Ach­seln zuckt und wei­ter­geht – oder wo er sich der ver­meint­li­chen Gefahr selbst­be­wusst nähert und, wie bei dem Weg­kreuz, ganz selbst­ver­ständ­lich dar­über streicht –, ist auch der Spuk ganz schnell beendet.

Zumin­dest dann, wenn die nack­ten Män­ner nur aus Holz sind.

Und die Geschwister?

© Johannes Willwacher