Die sechste Trächtigkeitswoche: über die merkwürdigen Gelüste trächtiger Hündinnen – und was stattdessen auf den Speiseplan gehört.

Am Mitt­woch­mor­gen steht Hei­di auf dem Kom­post. Das nicht, weil sie zwi­schen fau­len­dem Laub und Rasen­schnitt nach Ess­ba­rem suchen wür­de, son­dern viel­mehr, weil ihr etwas ver­meint­lich Ess­ba­res über die höl­zer­ne Umzäu­nung des Kom­post­hau­fens ent­kom­men ist: ein rot­brau­nes Eich­hörn­chen. Das­sel­be hat sich zum Ärger der Hün­din längst über die tief hän­gen­den Zwei­ge der angren­zen­den Wei­de in die vom Laub befrei­te Kro­ne geflüch­tet. Laut keckernd sitzt es im Geäst. Das auf­ge­reg­te Keckern beant­wor­tet die Hün­din mit nicht weni­ger auf­ge­reg­tem Geheul – weil es ihr aber den­noch ver­sagt bleibt, dem Nager bis in die Baum­kro­ne zu fol­gen, streckt sie sich ihm unge­lenk auf den Hin­ter­läu­fen ent­ge­gen. Der Mensch, der das beob­ach­tet, fin­det das wahn­sin­nig komisch. Die Hün­din weni­ger. Weil nichts komisch ist, wenn man hung­rig ist.

Bis in die sechs­te Träch­tig­keits­wo­che schrei­tet das Grö­ßen­wachs­tum der unge­bo­re­nen Wel­pen nur lang­sam vor­an. Der Ener­gie­be­darf von Mut­ter­hün­din und Wel­pen ist bis dahin also noch aus­rei­chend durch die übli­che Füt­te­rung abge­deckt. Ab dem 42. Tag der Träch­tig­keit – die Föten sind zu die­sem Zeit­punkt etwa sechs Gramm schwer und vier bis fünf Zen­ti­me­ter groß – gilt es aber zu berück­sich­ti­gen, dass das Grö­ßen­wachs­tum der Föten rasant zunimmt. Bei einem durch­schnitt­lich gro­ßen Wurf neh­men die­se nun immer mehr Raum ein – und las­sen damit auch im Magen der Hün­din immer weni­ger Raum für nor­mal gro­ße Mahl­zei­ten. Es gilt also einer­seits, dem stei­gen­den Ener­gie- und Nähr­stoff­be­darf der träch­ti­gen Hün­din gerecht zu wer­den, und ande­rer­seits, die Fut­ter­men­ge auf vie­le klei­ne­re Mahl­zei­ten zu ver­tei­len. Was aber soll­te man zufüt­tern? Mehr Pro­te­in? Mehr Vit­ami­ne und Mine­ra­li­en? Mehr Kal­zi­um für das Kno­chen­wachs­tum? Oder wirk­lich mehr Eichhörnchen?

Auf­grund der höhe­ren Nähr­stoff­dich­te bie­tet sich Wel­pen­fut­ter an – und da die­ses in der Regel schon alle Vit­ami­ne und Mine­ral­stof­fe ent­hält, um die Ent­wick­lung der unge­bo­re­nen Wel­pen im letz­ten Drit­tel der Träch­tig­keit zu unter­stüt­zen, sind auch nur bedingt Ergän­zungs­fut­ter­mit­tel von­nö­ten. Ganz im Gegen­teil, kön­nen die­se sich sogar schäd­lich aus­wir­ken, wenn sie der Hün­din im Über­maß zuge­führt wer­den. Zehn Pro­zent pro Woche – zusätz­lich zur nor­ma­len Fut­ter­men­ge – soll­ten also genü­gen. Auch wenn die Hün­din natür­lich trotz­dem noch aller­größ­te Lust auf ande­res hat.

Tags dar­auf beob­ach­te ich vom Küchen­fens­ter, wie sich die Hün­din an einem der bei­den Kirsch­bäu­me in die Höhe stemmt. Weil die Äste auch bei die­sem bis auf weni­ge ver­blie­be­ne Blät­ter kahl sind, brau­che ich nicht lan­ge, um das rot­brau­ne Eich­hörn­chen auf einem davon aus­zu­ma­chen. Wenig spä­ter lässt die Hün­din aber schließ­lich von der uner­reich­ba­ren Beu­te ab, schüt­telt sich und geht ihres Weges. Die ent­gan­ge­ne Mahl­zeit kann sie ohne­hin ver­schmer­zen: in der ver­gan­ge­nen Woche ist ihr Bauch­um­fang auf mehr als sech­zig Zen­ti­me­ter angewachsen.

© Johannes Willwacher