Mehr und immer noch mehr: eine Geschichte über Zufriedenheit – für unseren H-Wurf zu seinem dritten Geburtstag.
Canis per fluvium carnem ferens.
Phaedrus
Von der Fabrik am anderen Ufer des Flusses steigt Rauch auf. An Tagen, an denen der Ostwind über die Docks von Rotherhithe weht, trägt er den schwefligen Geruch über das Wasser hinüber. Wer nicht die Nase eines Hundes besitzt, bemerkt das kaum – zu viele andere Gerüche strömen in den schmalen Gassen, die sich zwischen den Lagerhäusern erstrecken, auf die Menschen ein. Der feinen Nase eines Hundes aber kann der faulige Geruch unter tausend anderen nicht entgehen – weshalb auch dieser eine, der sich zum Schlafen in einen feuchten Verschlag unweit der Kaimauern zurückgezogen hat, nicht umhin kommt, angewidert den Kopf zu heben.
Im Aufstehen streckt sich der Hund und lauscht nach den Stimmen, die von draußen zu ihm hinein in das Halbdunkel dringen. Vor Tagesanbruch klingen dieselben zumeist wie ein kehliges Bellen. Um die Mittagszeit mischt sich dann und wann auch der glockenhelle Klang freundlicher Stimmen darunter, der zum Abend hin schließlich von schrillem Zetern und Keifen abgelöst wird. Das aber, was gerade an seine Ohren dringt, entspricht nichts von alledem. Es ist ein angestrengtes Ächzen. Und das Holpern eines Karrens, der über das unebene Pflaster gezogen wird. Vorsichtig schiebt der Hund mit der Schnauze eines der losen Bretter beiseite, zwischen denen er am Vorabend in den Verschlag hinein geschlüpft ist, und schaut hinaus. Der Karren ist schon um die nächste Ecke verschwunden. Vor ihm auf dem Pflaster aber liegt ein saftiges Stück Fleisch.
Kaum, dass der Hund sich hinaus gezwängt hat, um an den verlorenen Fleischbrocken zu gelangen, erspäht er schon einen anderen, der ganz offensichtlich die gleiche Absicht verfolgt. Jener mag zwar etwas kleiner sein und kürzere Beine haben – er selbst misst von den Pfoten bis zur Schulter einen guten halben Meter und braucht wohl kaum mehr, als drei lang gestreckte Sätze, um sich den Brocken zu schnappen –, hat aber von der Holzkiste, von der er herunter blickt, das Fleisch gleich vor sich liegen. Zeit, um noch weiter zu zögern, bleibt ihm folglich nicht – weshalb er sogleich mit gebleckten Zähnen voran stürmt, und dieselben tatsächlich vor dem anderen in den Fleischbrocken graben kann. Bevor es ihm aber gelingen will, die Beute hinunter zu schlingen, ist auch der andere Hund dort angelangt und stellt sich ihm kläffend gegenüber. Will er sich nicht auf eine wilde Beißerei einlassen, muss er flüchten. Ruckartig hebt er also den Kopf. Und rennt.
Limehouse, am Nordufer der Themse gelegen, ist zu jener Zeit von mehreren Kanälen durchzogen, die die schiffbaren Gewässer im Norden mit den Docks am Regent’s Canal verbinden. Der Limehouse Cut, der sich fast schnurgerade bis zum Abzweig des Bow Creek am River Lea zieht, ist einer davon – gerade so breit, um einem Handelsschiff die Passage gewähren zu können, und mit zwei großen Stautoren an beiden Enden versehen. Am westlichen davon fällt in diesem Augenblick einem Hafenarbeiter ein Hund auf, der im Fang ein großes Stück Fleisch mit sich trägt. Aufgeregt blickt jener sich in alle Richtungen um, bevor er sich anschickt, auf den hölzernen Laufsteg am Kopf des Stautores zu springen. Kaum, dass er die Mitte erreicht hat, bleibt der Hund aber stehen und senkt den Kopf – beinahe so, als wolle er das Bild in Augenschein nehmen, das sich weit unter ihm im trüben Wasser spiegelt. Zwei Hunde mit zwei Fleischstücken blicken sich dort also an – einer hoch oben auf dem luftigen Laufsteg und einer unten im Wasser –, und beiden tropft es gierig von den Lefzen. »Auch das, was du mit dir trägst, will ich besitzen«, scheint der eine dem anderen, scheinen beide einander zuzurufen. Und weil das laute Bellen der Gier schließlich auch die Vernunft übertönt, haben beide nach einem beherzten Sprung nichts – und das Wasser alles.
»Sei zufrieden mit dem, was du hast«, will die zugrundeliegende römische Fabel bedeuten. Und: »Wenn du mit dem, was du hast, nicht zufrieden bist, wärst du auch nicht zufrieden, wenn es verdoppelt würde«. Auch als Hundebesitzer tut man nicht schlecht daran, sich das immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Sich nicht zu sehr mit anderen zu vergleichen, nur weil deren Hunde den Eindruck erwecken, schöner, schneller, erfolgreicher – oder schlichtweg besser erzogen zu sein: »Wenn dich dein Hund, mit all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten, nicht glücklich macht, würde es ein anderer auch nicht tun«.
Zum Geburtstag wünsche ich unserem H-Wurf und seinen Menschen deshalb Glück und Zufriedenheit. Dass Mensch und Hund sich ohne falsche Gier anblicken – und erkennen, was sich vom eigenen Selbst im anderen spiegelt.
© Johannes Willwacher