Die sechste Trächtigkeitswoche: von singenden Nomaden und anderen Samples – und was das mit der Hundezucht und unseren noch ungeborenen Welpen zu tun hat.
Now take a walk, take a rest, taste the rest.
Massive Attack (1994)
»Es ist schwierig für den Kopf, ohne Schulter zu sein, aber es ist genauso ein Unglück für den Leib, ohne Kopf zu sein«, heißt es in dem mittelalterlichen Epos über den Feldzug des Fürsten Igor gegen die Kiptschak, das den russischen Komponisten Alexander Borodin zu seiner ersten und einzigen Oper inspiriert. Achtzehn Jahre arbeitet er an seinem Werk. Als er 1887 stirbt, hinterlässt er die Oper dennoch unvollendet. Die Fragmente – der Kopf, die Schulter und der Leib – werden nach seinem Tod durch zwei befreundete Komponisten zusammengefügt. Bei der Uraufführung begeistert »Prinz Igor« 1890 die Massen. Und das Igorlied wird auch über die Grenzen Russlands hinaus bekannt.
Seit der Expedition von 1910, die von den britischen Forschern Douglas Carruthers, Morgan Philips Price und John Miller unternommen worden ist, hat kein Europäer mehr einen Fuß in das dünn besiedelte Gebiet im mongolischen Hochland gesetzt, in dem die Tuwiner leben. Nachdem es 1944 Teil der Sowjetunion wird, bleibt es bis 1988 für Ausländer gesperrt. Im Zuge von Glasnost bekommt ein britisches Filmteam im darauffolgenden Jahr schließlich die Erlaubnis, das Leben eines nomadisch lebenden Hirtenvolks am Fuß des Mongun-Taiga zu dokumentieren. Dort leben die Familien, den Jahreszeiten folgend, in einfachen Jurten und wechseln mit Yaks, Schafen und Ziegen mehrmals im Jahr das Lager. Die Traditionen der Tuwiner, zu denen auch der typische Kehlkopfgesang gehört, nehmen in der Dokumentation den größten Raum ein. Einer der Hirten erzählt singend am Feuer davon.
»Ich bin keine Stimme, ich bin das singende Feuer«, intoniert Nusrat Fateh Ali Khan, als er 1985 zum ersten Mal außerhalb von Pakistan auftritt, »was du hörst, ist das Knistern in dir«. 1948 wird der Musiker in Faisalabad in eine muslimische Familie geboren, die seit mehr als sechshundert Jahren die Tradition des Qawwali pflegt. Persische, arabische, türkische und indische Einflüsse verschmelzen im Qawalli miteinander. Das Instrumentarium ist spärlich und maßgeblich durch Trommeln und Klatschen geprägt. Als Khan 1990 zusammen mit Peter Gabriel im Tonstudio steht, lässt er sich von demselben aber dennoch überzeugen, seinen Gesang mit einem Harmonium zu begleiten. Jeder Ton, jedes Timbre trägt das Gewicht von Jahrhunderten. Und klingt doch neu, als die Aufnahme von »Mustt Mustt« spät in der Nacht beendet wird.
In einem abgedunkelten Studio in Bristol sitzen 1994 drei Musiker zwischen Synthesizern und Mischpulten. Die Stadt trifft auf die Steppe, während Borodins Feder über das Pergament kratzt. Während ein Hirte dem Widerhall seiner Stimme lauscht. Während der Rhythmus der Trommeln von den Ufern des Indus erzählt. Alles ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Jeder Ton ist ein Gen, das die Gestalt eines neuen musikalischen Organismus prägt. Und doch bleibt jedes Sample so einzigartig, wie der genetische Code, der die Essenz eines Wesens trägt: »And when we funk we’ll hear the beats …«
Jeder Herzschlag ist ein Sample der Geschichte. Jeder Welpe ein lebendiger Organismus, der die Vergangenheit variiert. Das ließe sich zum Ende der sechsten Trächtigkeitswoche auch durch unsere Hündin bestätigen. Kopf und Rumpf der ungeborenen Welpen sind unterscheidbar, und die Föten sehen nun aus wie kleine Hunde. Auch die Fellfarbe hat bereits begonnen sich zu entwickeln – und wer sein Ohr ganz dicht an den Bauch der Hündin drückt, dem gelingt es wohl auch, dem Herzschlag der Welpen zu lauschen.
Die Technik der Hundezucht hat viel mit der Kunst des Samplings gemein. Beim Sampling werden Töne aus verschiedenen Quellen entnommen und zu etwas Neuem und Einzigartigem zusammengesetzt. Ähnlich ist es in der Hundezucht: Züchter wählen sorgfältig Elternpaare aus, um spezifische genetische Merkmale zu kombinieren und so die besten Eigenschaften an die nächste Generation weiterzugeben. In beiden Fällen entsteht etwas Neues, das auf der Vergangenheit aufbaut, sie jedoch variiert und in die Zukunft trägt. So wie ein musikalisches Sample einen Hauch von Geschichte in einen modernen Kontext bringt, trägt auch jeder Welpe das Erbe seiner Vorfahren in sich.
Was klingt bei unseren Welpen durch? Stammt der Rhythmus vom Vater, die Melodie von der Mutter? Oder greift die Natur noch weiter zurück? Lassen sich nicht nur die Eltern, sondern auch ungezählte Elterngenerationen in der Komposition wiederfinden? So das mancher Ton im Remix an längst verklungene Schritte im schottischen Hochland erinnert – an Hirten und Schafe –, und ein anderer an das, was davon übrig bleibt. Drei Wochen noch, bis aus dem Knistern eine Stimme wird.
© Johannes Willwacher