Die Abenddämmerung bringt nicht nur die Nacht, sondern auch das unvermeidliche Ende: über Abschied und Akzeptanz in der achten Lebenswoche.
Mama take this badge from me,
I can’t use it anymore.
Guns N’ Roses (1991)
Kaum dass die einmotorige Maschine auf dem Rollfeld zum Stehen gekommen ist, reicht Bob einen zusammengefalteten weißen Zettel an Rudy. Er sagt dabei kein Wort. Schon am Morgen, als sie in Mexico-Stadt aufgebrochen sind, um zurück an das Filmset im staubtrockenen Durango zu fliegen, hatte der Musiker sich wortkarg gegeben. Auch während des knapp zweistündigen Flugs hatte er kaum ein Wort gesprochen, nur einmal verschnupft nach Stift und Papier verlangt und die übrige Zeit damit verbracht, das besagte Papier mit Worten zu füllen. Unbesehen will Rudy dasselbe gerade in seine Manteltasche stecken, als Bob unter seinem breitkrempigen Hut hervorlugt und mit näselnder Stimme schließlich doch zu sprechen beginnt. »Ich habe einen Song geschrieben«, sagt er. »Für die Szene, die morgen gedreht werden soll. Die, in der Slim Pickens stirbt.«
Der vierundfünfzigjährige Slim Pickens ist einer der Schauspieler, die Sam Peckinpah in Pat Garrett jagt Billy the Kid besetzt hat, der im Winter 1972 am Fuß der Sierra Madre im Westen Mexikos gedreht wird. Rudy Wurlitzer hat das Drehbuch für den Western geschrieben, in dem James Coburn und Kris Kristofferson die Hauptrollen spielen. Weil Letzterer gut mit Bob Dylan bekannt ist – 1965 hat Kristofferson als Aushilfe in den Columbia Recording Studios in Nashville gearbeitet, in denen die Aufnahmen zu Dylans drittem Album Blonde on Blonde stattfanden –, steht auch dieser auf der Besetzungsliste.

Der Deputy hat sich hinter einer Bruchsteinmauer verschanzt. Im Kugelhagel wird er dennoch getroffen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hält er sich den blutenden Bauch. Während er sich aufrafft und mit letzter Kraft zum Flussufer schleppt, wird auch seine Frau auf ihn aufmerksam, die sich mit erhobenem Gewehr vor dem Farmhaus aufgebaut hat. Erschüttert lässt sie dasselbe sinken und läuft ihm hinterher. Der Himmel über ihnen hat schon seinen Glanz verloren, das Gold des Sonnenuntergangs ist über den schweren Wolken in ein nächtliches Blau übergegangen. Am Ufer angekommen lässt sich der Deputy auf einen Stein sinken, den Blick auf das Wasser gerichtet, das ruhig vor ihm fließt. Er strahlt dieselbe Ruhe aus, hat das Unausweichliche längst angenommen. Das spiegelt sich auch im Blick seiner Frau, die ihn beinahe erreicht hat, als ihr die Beine versagen. Ein Blick, der voller Liebe und Sehnsucht, aber auch Verständnis ist. Statt das Ende aller Dinge zu fürchten, begrüßen es beide. Und über all dem schwillt »Knockin’ on Heaven’s Door an«. Ein Lied. Eine Geschichte. Ein Gefühl.

»Ich könnte das ja nicht, züchten, meine ich«, sagt sie, und ich ahne schon, was als Nächstes kommt. Zu oft habe ich ähnliche Gespräche geführt, und zu oft den immer gleichen Einwand gehört. »Ich könnte keinen Welpen abgeben«, nehme ich deshalb auch diesmal in Gedanken vorweg, »ich müsste alle behalten«. Dass nur jemand so denken kann, der niemals selbst einen Wurf großgezogen hat – der nur die schönen und sauberen Seiten der Welpenaufzucht kennt und nicht die langen Tage und kurzen Nächte – behalte ich für mich. Stattdessen nicke ich nur und geleite sie zum Gartentor.
Es wird Abend. Die Sonne steht tief über den Hügeln und wirft lange Schatten über den Garten. Der Himmel leuchtet in Farben, die mir immer schon zu groß erschienen: sattes Gold, tiefes Orange bis hin zu einem schwermütigen Violett. Während das Licht langsam schwindet, schleicht sich ein schweres Gefühl heran, als zöge etwas Dunkles in der Ferne auf. Der Tag stirbt langsam und mit ihm die Zeit, die ich noch mit diesem Wurf verbringen darf. Ich sitze auf der abgenagten Holzpalette, die mitten auf dem umzäunten Wiesenstück steht, eine Hand locker auf dem Knie, die andere streichelt den Kopf eines der Welpen, der sich an mich lehnt. Sein Fell ist weich und warm von der Sonne. Er ahnt nicht, was auf ihn zukommt.
Die anderen rennen noch immer durch den Garten, wild und unbekümmert. Die kleinen Körper taumeln durch das hohe Gras, die Augen voller Unschuld. Sie kämpfen, jagen sich, fallen hin und stehen wieder auf, als hätten sie ewig Zeit. Für sie gibt es keine Zukunft, kein Ende, nur diesen Augenblick, dieses Spiel. Aber ich weiß es besser. Ich weiß, dass ihre Zeit hier zu Ende geht.

Das ist nicht mein erster Wurf und wird wohl nicht mein letzter sein. Jeder Wurf ist anders, aber der Moment bleibt derselbe. Jede Bewegung, jedes Geräusch brennt sich in mein Gedächtnis ein. Ich sage mir, dass ich es gewohnt bin, loszulassen. Aber die Wahrheit ist: Man gewöhnt sich nie daran. Die ersten Tage ohne sie werden still sein, zu still.
Aber das Loslassen gehört dazu, wie der Abend zum Tag. Man kann sich dem nicht entziehen. Die Welpen müssen gehen, sie müssen ihre eigenen Wege finden, neue Menschen kennenlernen. Und ich muss ihnen das geben. Die Freiheit, ihr eigenes Leben zu beginnen. Nachdenklich schaue ich auf die Kleinen, die sich erschöpft im Gras niederlassen, und meine Gedanken fließen zu jedem von ihnen. »Ich habe euch nichts mehr zu geben«, sage ich mir leise, »ihr habt alles, was ihr braucht. Ihr seid bereit. Es ist Zeit, eure Reise zu beginnen«.
Es ist schwer, die Tür zu schließen, aber ich weiß, dass es notwendig ist. Sie sind bereit, auch wenn ich es vielleicht nicht bin. Ich muss das Ende annehmen, es umarmen, es willkommen heißen. Damit ihr Leben ohne mich beginnen kann. Damit meines zu meinem zurückfindet. Und damit, irgendwann, alles von Neuem beginnen kann.
© Johannes Willwacher