Ein letztes Casting, bei dem es um nicht weniger, als um alles geht: über Balance-Linien und strukturelle Vor- und Nachteile – unsere sechs Welpen auf dem Tisch.
This is your last chance.
After this, there is no turning back.
The Matrix (1999)
Lorenzo mag das Drehbuch, das Larry und Andy ihm geschickt haben. Der erste Film der Geschwister, der im Vorjahr veröffentlicht worden ist, hat sich nicht nur bei den Kritikern, sondern auch beim Publikum als Erfolg erwiesen. Weil der Vertrag, den er als ausführender Produzent mit den beiden Exzentrikern abgeschlossen hat, die Produktion eines weiteren Films umfasst, ist das schwer verständliche, futuristische Konzept, das auf seinem Schreibtisch liegt, zwar ein Wagnis – aber doch eines, das sich lohnen könnte.
Er nimmt den Hörer des Telefons in die Hand, drückt die Wahlwiederholung und nach endlosem Läuten nimmt endlich jemand ab. »Grünes Licht gibt es nur für einen großen Namen«, sagt dieser Jemand im Verlauf des Gesprächs. »Wir finanzieren den Film nur, wenn jemand wie Brad Pitt die Hauptrolle übernimmt.« Johnny Depp, den die Wachowskis sich wünschen, wird kategorisch ausgeschlossen. Stattdessen fallen die Namen von Val Kilmer, Nicolas Cage und Leonardo DiCaprio. »Falls Pitt nicht verfügbar ist, können Sie auch bei Will Smith anfragen«, heißt es schließlich, als aufgelegt wird. Lorenzo bleibt mit dem tutenden Hörer und der Matrix zurück.
Brad Pitt fühlt sich nach den Dreharbeiten zu Sieben Jahre in Tibet erschöpft und ausgelaugt. Leonardo DiCaprio begründet seine Absage mit den Dreharbeiten zu Titanic, die er gerade erst abgeschlossen hat. »Schon wieder ein Film, bei dem die visuellen Effekte im Vordergrund stehen«, sagt er, und Lorenzo di Bonaventura streicht einen weiteren Namen von seiner Liste. Nachdem schließlich auch Will Smith dem Produzenten eine Absage erteilt, macht sich dieser schon bereit, die Regisseure davon zu überzeugen, das Drehbuch umzuschreiben und Sandra Bullock in der Hauptrolle zu besetzen: »Warum sollte Neo kein Mädchen sein?« Aber dann kommt alles anders.
»Mein Agent rief mich an und sagte, dass die Wachowskis sich mit mir treffen wollen.« Keanu Reeves steht auf einem Parkplatz, der zwischen zwei Bürogebäuden in Los Angeles eingezwängt ist. Die Geldgeber sind zwar noch immer nicht davon überzeugt, dass der dreiunddreißig Jahre alte Schauspieler das Profil besitzt, um den Erfolg des Films zu garantieren – alle Filme, die er in den vergangenen zwei Jahren gedreht hat, sind an den Kinokassen gefloppt –, die Wachowskis haben aber darauf bestanden, ihm das Drehbuch zu schicken. Man unterhält sich also angeregt, tauscht sich über die angedachten filmischen Mittel aus – und vielleicht, weil Reeves als einer von ganz wenigen den philosophischen Grundgedanken der Handlung folgen kann, wird das Casting an Ort und Stelle mit einem Handschlag beschlossen: »Ich kann dir nur die Tür zeigen, hindurchgehen musste du alleine«.
Schon am zweiten Tag nach der Geburt unserer Welpen schreibe ich Miriam an, ob sie die Zeit finden kann, zum Ende der siebten Lebenswoche bei den Standfotos der Welpen zu assistieren. Zuvor habe ich schon die Halsbänder in Auftrag gegeben, die unsere sechs Welpen beim Auszug begleiten sollen. Im Gegensatz zu denselben, die in leuchtenden Farben gehalten sind und an die Rave-Kultur der frühen neunziger Jahre erinnern sollen, wünsche ich mir von ihr aber etwas ganz anderes. »Ich hülle mich in Latex«, schreibt sie nicht ganz ernst gemeint auf meine Vorstellung zurück, das Fotoshooting im Stil von Die Matrix zu inszenieren. Bei dem Gedanken daran muss ich laut lachen – denke dann aber, dass es schlussendlich gar nicht um die Inszenierung geht.
Es geht um Potenziale. Es geht darum, zu erkennen, wo die Vorzüge und Nachteile eines Welpen liegen, und ob die einen oder anderen überwiegen. Und damit schlussendlich immer auch um die Zukunft. Zum einen, weil die strukturelle Analyse eines Wurfs sehr deutlich offenbart, ob die Verpaarung aus züchterischer Sicht funktioniert hat – oder ob für die Wurfplanung der Hündin zukünftig andere Rüden, andere Linien in Betracht gezogen werden müssen. Zum anderen, weil sich anhand der zu beurteilenden körperlichen Merkmale und Maßverhältnisse – Züchter sprechen hier gerne von Balance-Linien, anhand derer der Körperbau des Welpen von den Sprunggelenken bis zu Vorbrust vermessen wird – auch über die Zukunft des einzelnen Welpen entscheiden lässt. Könnte dieser oder jener zum Star im Ausstellungsring werden? Könnte er in einer anspruchsvollen Sportart bestehen? Wer meint, dass es bei der abschließenden Beurteilung eines Wurfs nur um die Befriedigung der züchterischen Eitelkeiten geht, irrt also. Wenn die Welpen sich zwischen der siebten und neunten Lebenswoche auf dem Tisch präsentieren müssen, geht es vielmehr darum, Enttäuschungen zu vermeiden. Ein letztes Casting, bei dem es um nicht weniger, als um alles geht.
Am Ende bleibt die Wahl: die richtige Entscheidung treffen, ohne zu wissen, wohin der Weg führt. »Ich kann dir nur die Tür zeigen«, heißt es – wer hindurchgeht, sich für welchen Weg entscheidet, weiß nur die Zukunft.
© Johannes Willwacher